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Emporte moi 1

Emporte-moi

Léa Pool hat Ausschnitte aus Vivre sa vie in Emporte-moi eingebaut. Diese Originalausschnitte verstärken in ihrem in den sechziger Jahren spielenden Film die ästhetische Präsenz dieser Zeit. Léa Pool evoziert aber nicht nur die Sechziger, sondern erinnert auch an die Auseinandersetzungen von damals.

Text: Judith Rutishauser / 01. Apr. 1999

Nimm mich mit – trag mich weg, lautet die hoffnungsvolle Verheissung. Doch Léa Pool versucht in Emporte-moi, den Zuschauer davon abzuhalten, sich hemmungslos seinen Gefühlen zu überlassen. Sie bricht den Voyeurismus, wie es bereits Jean-Luc Godard in seinem Film Vivre sa vie getan hat, der seinerseits La passion de Jeanne d’Arc von Dreyer zitiert.

Léa Pool hat Ausschnitte aus Vivre sa vie in Emporte-moi eingebaut. Diese Originalausschnitte verstärken in ihrem in den sechziger Jahren spielenden Film die ästhetische Präsenz dieser Zeit. Léa Pool evoziert aber nicht nur die Sechziger, sondern erinnert auch an die Auseinandersetzungen von damals. Vivre sa vie wird zum Identifikations- und Fluchtpunkt der vierzehnjährigen Protagonistin Hanna, die sich den Film mehrfach im Kino ansieht. Kampf um Freiheit und Auflehnung gegen die Unterdrückung der Frau verbindet die drei Filme. Léa Pool jedoch kehrt Vorzeichen um: der modische Kurzhaarschnitt der sechziger Jahre, welcher Hanna gegen ihren Willen verpasst wird, weckt in ihr nicht das Gefühl von Freiheit, sondern führt zu bitteren Tränen – vielleicht eine Anspielung auf den kahlgeschorenen Kopf von Jeanne d’Arc in Dreyers Film.

Emporte-moi erzählt die Entwicklungsgeschichte eines jungen Mädchens und ist autobiographisch gefärbt. Léa Pool präsentiert persönliche Erinnerungen. Doch die Grenze zwischen autobiographischen und fiktionalen Handlungselementen verwischt sich. Die Geschichte – eine «normale» Familiengeschichte, die nicht aktiv unterwandert wird – wirkt etwas fragmentarisch. Weniger durch äussere Dramatik als durch sinnliche Eindrücke, die sich in subjektiven, aber auch klischierten Bildern entladen, entsteht ein vages, gewiss innerlich emotionales Bild.

Emporte moi 3

Gefühle und Empfindungen werden dem Voyeurismus des Zuschauers zwar entzogen, im Unterschied zu Godard jedoch liegt der Autorin die unmittelbare intellektuelle Reflexion nicht. Sie verweigert das unverstellt Persönliche. Was sie vorlegt, ist eine durchaus konventionelle Handlung, die sie mit Chiffren und Zitaten durchsetzt. Die Aneinanderreihung von Fragmenten sinnlicher Situationen und die manchmal prätentiöse Selbstbespiegelung des Mediums fallen auf.

Einige Filmemacher, deren persönliche Befindlichkeit zentraler Motor ihres Schaffens ist, haben autobiographische Kindheitsfilme gedreht – Filmemacher wie Ingmar Bergman, Federico Fellini oder der Schweizer Daniel Schmid. Die Fiktionalisierung des Lebens – einer beruflich bedingten Lebensweise – findet einen höchst persönlichen Ausdruck in der Vermischung von Erinnerung und Fiktion. Wahrheit entsteht nicht mehr nur durch Dichtung, sondern kommt durch das Bearbeiten der Erinnerung neben sie zu stehen. Das Terrain aber wird plötzlich brüchig, die vermeintlich angeborene Affinität zum Kino vage.

Umgekehrt wird in Emporte-moi die Identifikation der Autorin mit ihrer Hauptfigur und die Selbstbespiegelung erst durch Hannas Vorliebe fürs Kino offenbar. Es kann, es muss also von einem autobiographischen Film gesprochen werden. Wer die ersten Langspielfilme von Léa Pool kennt, wird nicht bloss die Neigung zum Kino und die Neigung, das Medium zu reflektieren, sondern auch den Versuch, Frauen auf spezifische Weise mit kinematographischen Mitteln zu betrachten und darzustellen, als wiederkehrende Thematik erkennen. Trauer, Verlust, Selbstsuche und starke erotisch-emotionale Bindung an Frauen sowie der Drang nach Freiheit und die Reflexion des Mediums wiederholen sich in immer neuen Konstellationen. emporte-moi wird insofern zu einem Schlüsselfilm, als er die chiffrierten autobiographischen Aspekte der früheren Filme einsichtig macht.

In Emporte-moi ist es die verehrte und geliebte Lehrerin, die Hanna auffordert, die «eigene Sprache» für’s «eigene Leben» zu finden. Indem sie Hanna eine Amateurkamera borgt, ermöglicht sie ihr einen ersten Schritt in diese Richtung. Dank dieser Kamera wird Hannas Obsession, von der Mutter – der wichtigsten Frau im Leben eines Kindes – Beachtung zu erhalten, «angesehen und angehört zu werden», am Schluss des Films als zentrales Motiv ihrer Verhaltensweise herausgeschält.

Der Film, den Léa Pool gedreht hat, um ihre Kindheitserinnerungen zu fiktionalisieren, wirkt literarisch. Dort jedoch, wo in der Literatur die Reflektion des Erwachsenen die Bruchstücke der Erinnerung mit Sprache ineinanderweben und mit Bedeutung füllen kann, setzt Léa Pool als Filmemacherin auf die Kraft sprachloser Zeichen. Oft ist es die Musik, die Bedeutung herstellen soll, aber auch der Versuch, Emotion über die Grossaufnahme von Gesichtern der Protagonisten auszudrücken. Im Unterschied zur Literatur, die allein unter der Kontrolle und in der Verantwortung des Autors und der Vorstellungskraft des Lesers steht, spielen im Film aber nicht nur einzelne durch Technik und kulturell bedingte Abbildungsformen der Elemente (wie zum Beispiel Dekor oder Schauspieler) eine Rolle, sondern eine weit grössere Zahl von Schnittmengen, von denen es jeweils noch mehrere Elemente gibt. Ob sich Léa Pool ihre jungen Figuren genau so vorgestellt hat? Die junge Darstellerin der vierzehnjährigen Hanna jedenfalls ist zweifelsohne wichtigstes Element, aber sie wirkt vielfach überfordert. Trotzdem kommt die Suche nach Identität, die Identifikation und die Selbstbespiegelung mit und in anderen Frauen – eine sich in Léa Pools Filmen wiederholende Thematik – zum Ausdruck.

Emporte moi 2

Die vierzehnjährige Hanna wird in den Anfangssequenzen biologisch zur Frau. Sie ist in diesem Moment, da sie mit dem Erwachsenwerden konfrontiert ist, nicht nur weit ab vom Elternhaus, in den Ferien bei den Grosseltern, sondern in jeder Hinsicht unvorbereitet und von der im Verlauf des Films stets von ihr umworbenen Mutter allein gelassen. Als Mädchen erfährt sie Sexismen, fühlt sich von der Mutter im Stich gelassen und flüchtet sich ins Kino. Trotzdem möchte sie «so krank sein wie ihre Mutter», wie Hanna der Grossmutter gegenüber behauptet. Nicht kindlicher Trotz, sondern Überforderung und die Einsamkeit einer werdenden jungen Frau, bilden das Gefühlsschema.

Die Mutter ist aber nicht bloss Rabenmutter, nicht bloss positive oder negative Identifikationsfigur, sondern begehrtes Objekt, um das Hanna durchaus mit erotischen Mitteln wirbt. Das wiederholte Bildmotiv des ins-Wasser-Abtauchens, als Spiel zwischen Tod und Erotik, Spiel mit dem Anderen, wirkt wie ein Symbol für den nicht mehr vorhandenen pränatalen Zustand jener Geborgenheit und jenes «Getragen-Seins», die mit der Mutter auf ungeteilte, erotische Weise eine Einheit bildet, und verkommt damit zum Klischee.

Nicht «emporte-moi», sondern «komm mit mir weg», bittet Hanna die Mutter einmal, nicht nur weil der Vater diese angeschrien und erniedrigt hat, sondern weil Hanna die Mutter begehrt und an Stelle des Vaters deren Beachtung will. Eine Art weiblicher Ödipuskomplex also? Hanna identifiziert sich auch mit Nana, der Prostituierten im Film Vivre sa vie, deren Gesten sie nachahmt und dessen Dialoge sie bald auswendig mitsprechen wird. Doch die von Hanna bewunderte Freiheit endet für Nana tödlich. Begehren und Identifikation vermischen sich auch im Blick auf die Lehrerin, die in Hannas Augen zum Abbild Nanas in ihrem realen Leben wird. Die Lehrerin, die Hanna ermahnt, «nicht alles durcheinanderzubringen», ist gleichzeitig die einzige, die Hannas Sehnsucht erkennt und unterstützt. So ist es deren Kamera, die als Verdoppelung der Augen und des Begehrens zum Schluss des Films auf das erste verfügbare Objekt, nämlich die Mutter, gerichtet wird: «Die eigene Sprache für das eigene Leben finden», wie die Lehrerin Hanna aufgefordert hat.

Anna karina in vivre sa vie

(Bild: Anna-Karina in Vivre sa vie)

Und diesmal spricht die Mutter mit der Tochter, stellt sich ihr, während Hanna sie mit der Amateurkamera festhält, wodurch sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit gewinnt. Nach den Aufnahmen Hannas pointiert Léa Pool das Verhältnis, wenn sie kurz vor der Umarmung zeigt, wie auch die Mutter ihre Tochter ansieht und für einen kurzen Moment zu begehren scheint.

Léa Pool, die in ihren Filmen mit äusserlich dramatischer Handlung zurückhält, erfindet immer wieder «symbolhaft» analoge Situationen, um Innerlichkeit, Gefühl und Identifikation in einer Art ausgelagerten Verdoppelung auszudrücken. In Anne Trister war es die Parallelhandlung des Mädchens, das bei der Kinderpsychologin um Liebe und Vertrauen ringt; in La femme de l’hôtel die Frau, die die Regisseurin bei den Dreharbeiten mit ihren «echten» Gefühlen inspiriert; in A corps perdu das Zusehen des Fotoreporters, der sich um Verantwortung drückt, was sich auch in seinen Beziehungen wiederholt. Einer möglichen Kritik jenes wiederholten «Mutter-Tochter-Schemas», das sie bereits in Anne Trister und verschlüsselt in La femme de l´hôtel als Muster des Begehrens zwischen Frauen verwendet hat, entzieht sie sich dort, wo die Darstellung von Gefühlen wie Verlorenheit, Traurigkeit, unerfüllbares Begehren sowie der Versuch auszubrechen, sich selbst zu sein, in ihren stärksten Filmen allgemeingültig und eindringlich gelingt. Emporte-moi deutet das Muster autobiographisch und als weiblicher Ödipuskomplex psychologisch unumgänglich. Interessant wird die Aussage über das Kino, das Freiheit verspricht, aber auch die Gefahr «des-sich-Prostituierens» in sich birgt, wenn Identifikation mit dem anderen, der Leinwandfigur Nana zum Beispiel, zum Selbstverlust wird, dem Léa Pool die Aufforderung «die eigene Sprache für das eigene Leben zu finden» entgegen hält und in der Schlusssequenz nochmals Identifikation, Wunsch und Sehnsucht nach Getragen-Sein, Geborgenheit und Liebe, den Gefahren des Selbstverlusts und der dadurch notwendigen Abgrenzung mit der Filmkamera gegenüber stellt.

Emporte moi 4

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/1999 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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