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Grandes ondes 09

«Film ist Utopie und Lebensschule»

«Das Roadmovie erlaubt es, einen Huis clos zu kreieren – ein Kammerspiel in Bewegung. Wenn man mit jemandem im Auto sitzt, muss man miteinander sprechen – das ist schon fast wie im Beichtstuhl in der Kirche.» Lionel Baier über Les grandes ondes (à l’ouest) und die Bande à Part im Gespräch mit Doris Senn.

Text: Doris Senn / 01. Juli 2013

FILMBULLETIN Wie entsteht eine Geschichte wie diejenige von Les grandes ondes (à l’ouest)?

LIONEL BAIER Ganz am Anfang stand 2009 eine Einladung des Westschweizer Radios, das eine Sendung zum zwanzigsten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer machen wollte. Dazu sollten Persönlichkeiten aus der Westschweiz einen kleinen Trabant von der bulgarischen Grenze bis nach Berlin lenken. Ich fuhr den Wagen von Prag nach Leipzig. Begleitet wurde ich von einer Journalistin und einem Journalisten des Radios und einem Techniker. In den drei Tagen, in denen ich mit ihnen unterwegs war, machte ich mir Notizen über die drei, ihre Beziehung untereinander, ihr Verhältnis zu ihren Chefs in Lausanne und insbesondere über den Umgang, den die «kleinen» Schweizer mit der «grossen» Geschichte pflegen. Daraus entstand eine erste Synopsis. Dabei fügte ich von Beginn weg Portugal ein, weil ich gerne und schon seit langem von jener Revolution erzählen wollte. Als ich klein war, hatte es in meiner Schule viele Kinder aus Portugal, und wenn wir bei ihnen zum Geburtstag eingeladen waren, erzählten deren Eltern häufig von der Nelkenrevolution, die sie selbst erlebt hatten. Ich wiederum war sehr davon beeindruckt, dass dieses Volk, das ansonsten sehr viele Ähnlichkeiten mit den Schweizern hat, um den hohen Preis der Demokratie wusste: Im Gegensatz zu uns hatten sie sich diese erobern müssen! Ich bewunderte dieses Volk sehr, das den Mut zur Revolution gehabt hatte.

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FILMBULLETIN Les grandes ondes (à l’ouest) ist ein schmucker Kostümfilm, der sich in den Siebzigern ansiedelt und, das ist neu in Ihrem Schaffen, eine Komödie durch und durch. Wie kam es dazu?

LIONEL BAIER Zum einen war die damalige Faszination für die Moderne und Technik ausschlaggebend, zum andern, dass ich in meiner Kindheit im Fernsehen viele Komödien aus dem Frankreich der siebziger oder dem Italien der sechziger Jahre schaute und das Genre liebe. An der Komödie reizt mich insbesondere die rigide Struktur, die dir im Autorenfilm aber auch grosse Freiheiten lässt: Du musst einfach am Anfang des Films dem Publikum deine “Grammatik” erklären und es auffordern, ihr zu folgen – es funktioniert sehr ähnlich wie in der Poesie. Bei der Komödie muss man mit etwas interagieren, das sehr präzise, sehr mathematisch, sehr organisiert ist – eine Struktur, die die Zuschauer kennen. In Les grandes ondes (à l’ouest) wollte ich diesen Mechanismus erkunden. Auch deshalb verwendeten wir zu Beginn der Montage viel Zeit auf das, was man bei den Comics «la ligne claire» nennt: Der Einstieg sollte einfach und gradlinig sein, um dann die Figuren loszulassen – die Klischees sollten einzig genutzt werden, um sich wieder davon zu befreien.

FILMBULLETIN Wie kreieren Sie Ihre Figuren, damit sie auf Anhieb Konturen gewinnen? Zum Beispiel den Reisejournalisten Cauvin, diesen auf den ersten Blick überheblichen Macho, der – etwa mit seinem lautmalerischen Nonsens-Portugiesisch oder seinem Gedächtnistraining – auch eine unbeholfen-liebenswerte Seite enthüllt?

LIONEL BAIER Ich denke in erster Linie an reale Figuren. Für Cauvin etwa inspirierte ich mich an diversen Radiomoderatoren, mit denen ich zusammengearbeitet und teils auch Reisen gemacht hatte, unter anderem nach Afrika. Der Tontechniker Bob wiederum ist eine mehr oder weniger erfundene Figur. Im Zentrum des Films stand für mich aber von Anfang an Julie, deren Figur sich an einer Journalistin aus den Siebzigern inspiriert, die man im Radio wegen ihrer feministischen Haltung kaltgestellt hatte – einzig deshalb, weil sie sich 1971 vehement für das Frauenstimmrecht eingesetzt hatte. Letztlich habe ich den Film für Valérie Donzelli geschaffen. Ich bin mit ihr befreundet und wollte schon seit langem mit ihr zusammenarbeiten – also habe ich ihr die Rolle der Julie auf den Leib geschrieben und die anderen Figuren um sie herum angeordnet.

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FILMBULLETIN Das Autobiografische scheint immer eine wichtige Rolle in Ihren Filmen zu spielen – entweder als thematisches Zentrum wie in Ihren frühen Dokumentarfilmen – oder dann in Alter-Ego-Figuren wie hier etwa mit dem jungen, filmbegeisterten Pele …

LIONEL BAIER Was mir an der Figur Peles gefällt, ist, dass er sein Verständnis von Demokratie und Freiheit nur dank den Filmen von Marcel Pagnol erhalten hat. Ich wiederum weiss nur aus Filmen, wie sich eine Revolution anfühlt, eine Diktatur, ein Staatsstreich. So wie Pele habe auch ich in vieler Hinsicht ein filmisches Wissen der Dinge. Andererseits: Als ich achtzehn war und die Abstimmung für einen Beitritt der Schweiz zur EU negativ ausfiel, war das ein grosser Schock für mich und die meisten in meinem Alter. Die Utopie eines geeinten Europa hat mich, mein Interesse für die Politik geprägt. Entgegen der Entwicklungen und Behauptungen von konservativer Seite in den jüngsten Jahren ist die EU meiner Meinung nach nicht das Problem, sondern die Lösung. Ich wollte deshalb einen Film machen, um zu zeigen, woher wir kommen und wie die ursprüngliche Utopie aussah. Die EU ermöglicht vielen Ländern eine Demokratisierung, die sie sonst erst viel später erreichen würden, insbesondere was die Rechte für Minderheiten angeht. Mit Les grandes ondes (à l’ouest) wollte ich nicht zuletzt etwas Humorvolles kreieren, um an diese Utopie zu erinnern.

FILMBULLETIN Was bedeutet Film grundsätzlich für Sie?

LIONEL BAIER Filme helfen mir zu verstehen, wie das Leben funktioniert. Filme anzuschauen, aber auch selbst zu machen, ist für mich eine Art Gebrauchsanweisung für das Leben. So etwa, um ein klassisches Beispiel zu nennen, in Sherlock Junior von Buster Keaton: Keaton spielt in dem Film einen Vorführer, der via Leinwand lernt, wie man einer Frau den Hof macht, sie küsst. Er steigt dazu via Leinwand in einen Film hinein und wieder heraus – wie in einer Art Spiegelkabinett. Ich glaube auch, dass Film die Sicht auf die Welt prägen kann und dass das Kino eine Art politisches Bewusstsein zu schaffen vermag, ein Bewusstsein des Zusammenlebens – wie eine Art Lebensschule.

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FILMBULLETIN Mehrere Ihrer Filme sind Roadmovies. Was fasziniert Sie an diesem Genre?

LIONEL BAIER Das Roadmovie erlaubt es, einen Huis clos zu kreieren – ein Kammerspiel in Bewegung. Menschen in einem Wagen teilen automatisch eine gewisse Intimität. Wenn man mit jemandem im Auto sitzt, muss man miteinander sprechen – das ist schon fast wie im Beichtstuhl in der Kirche. Auch wenn man einen Autostopper mitnimmt, gehört das Gespräch automatisch mit dazu. Der VW-Bus in Les grandes ondes (à l’ouest) wird dabei zu einer Art schweizerischer Botschaft auf Rädern. Im Innern fährt eine Schweiz im Kleinen – nach aussen trägt der Bus ja sämtliche Insignien, die das Gefährt als schweizerisch auszeichnen. An einem gewissen Punkt muss das Grüppchen also aus diesem Huis clos verstossen werden – um mitzubekommen, was ausserhalb davon abgeht, und daran teilnehmen. Und natürlich hat das Roadmovie an sich etwas Filmisches – und ist für mich zudem eng mit dem amerikanischen Kino verbunden, das ich sehr mag.

FILMBULLETIN Sie sind Filmregisseur, Drehbuchautor, Produzent und leiten die Filmabteilung an der ECAL, der Ecole cantonale d’art de Lausanne. Wie schaffen Sie das?

LIONEL BAIER Ich schlafe sehr wenig! Fünf Stunden, um genau zu sein. Die Filmkurse an der ECAL etwa geben mir jedoch genau jene Energie, die ich brauche, um Filme machen zu können. Und umgekehrt könnte ich kaum Film unterrichten, wenn ich nicht gleichzeitig Filme machen würde. Cinephil zu sein und selbst Filme zu drehen, geht für mich Hand in Hand. Es ist wie eine Art Mechanik, die ineinandergreift. Ich spüre eine grosse innere Unruhe, und wenn ich mich nur mit etwas beschäftigen würde, würde sich diese Unruhe nur auf ein einziges Ziel richten. Für mich wirkt die Beschäftigung mit mehreren Dingen befreiend – ebenso die Zusammenarbeit mit Ursula Meier, Jean-Stéphane Bron und Frédéric Mermoud im Rahmen von Bande à part. So umgehe ich etwas, was im Filmschaffen häufig der Fall ist, nämlich mit dem eigenen Projekt sehr allein zu sein. Sowohl die ECAL als auch Bande à part bieten mir eine Möglichkeit, mit anderen gemeinsam Dinge voranzutreiben.

Garcon stupide 06

(Bild: Garçon stupide)

FILMBULLETIN Stichwort Bande à part: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit innerhalb der Produktionsfirma?

LIONEL BAIER Wir sind je für die Produktion des eigenen Films verantwortlich – so etwa Jean-Stéphane Bron für L’expérience Blocher oder Ursula Meier für Sister. Es gibt hingegen einen engen Austausch, was etwa Drehbuch und Schnitt betrifft. Wir treffen uns regelmässig, um Projekte zu besprechen oder uns gegenseitig die Filme zu zeigen. Zudem hat jeder von uns besondere Kontakte, die für die anderen fruchtbar gemacht werden können. Zum Beispiel habe ich einen guten Draht zum Fernsehen in der Romandie und kann mich dort für ein Projekt von Ursula Meier einsetzen. Wenn ich wiederum einen Verleiher in Frankreich suche, wende ich mich an sie und profitiere von ihrem Beziehungsnetz. Es ist eine Geometrie, die ständig in Bewegung ist: Ursula hat soeben einen Kurzfilm in Sarajevo gedreht – Frédéric hat ihn produziert und sie bei den Dreharbeiten begleitet. Andererseits erhält Frédéric durch Jean-Stéphane Unterstützung beim Drehbuch seines neuen Films, während ich Jean-Stéphane beim Script von L’expérience Blocher unterstützte. Sie alle wiederum haben sich mehrmals bei der Montage von Les grandes ondes (à l’ouest) eingeklinkt und mir geholfen, gewisse Anschlusslösungen bei der Entwicklung des Plots zu finden.

FILMBULLETIN Nach Comme des voleurs (à l’est) wendet sich Ihr neustes Roadmovie, Les grandes ondes, Richtung Westen. Wohin geht es in Ihrem nächsten Film?

LIONEL BAIER In der Tat sind beide Filme Teil einer «Tetralogie», für deren Vervollständigung es noch zwei Filme geben wird: einen Richtung Norden – in Schottland, um genau zu sein – und einen Richtung Süden, in Italien. Aber ich habe nicht vor, diese jetzt gleich zu realisieren – wie es auch zwischen comme des voleurs und les grandes ondes andere Filme gab. Ich arbeite zurzeit deshalb an zwei anderen, sehr unterschiedlichen Spielfilmprojekten, von denen sich das eine in Frankreich, das andere in der Schweiz ansiedelt, und die beide auf dem – hoffentlich besten – Weg zur Finanzierung sind.

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(Bild: Comme des voleurs)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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