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Finding Vivian Maier

«Exzentrisch», «eigen», «verschlossen»: So beschreiben gleich mehrere Interviewpartner die Fotografin Vivian Maier zu Beginn des Dokumentarfilms. Damit stellen die Filmemacher das Rätsel um ihre Hauptfigur von Anfang an ins Zentrum. Wer war die Unbekannte, die es laut Filmtitel hier zu finden gilt?

Text: Natalie Böhler / 30. Juli 2014

«Exzentrisch», «eigen», «verschlossen»: So beschreiben gleich mehrere Interviewpartner die Fotografin Vivian Maier zu Beginn des Dokumentarfilms. Damit stellen die Filmemacher das Rätsel um ihre Hauptfigur von Anfang an ins Zentrum. Wer war die Unbekannte, die es laut Filmtitel hier zu finden gilt? Finding Vivian Maier ist gleichzeitig ein Porträt einer neu entdeckten Künstlerin, eine Spurensuche fast schon detektivischen Ausmasses, die Geschichte eines Doppellebens und eine Betrachtung der alten Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben.

2007 ersteigerte John Maloof, der zusammen mit Charlie Siskel auch als Koregisseur des Films zeichnet, auf der Suche nach historischen Dokumentationen über ein Quartier in Chicago zufällig einige Kisten altes Fotomaterial. Was 400 Dollar kostete und auf den ersten Blick wie ein Haufen Negative und unentwickelte Filmspulen aussah, entpuppte sich bald als ein umfangreiches, künstlerisch hochstehendes Werk mit deutlicher Handschrift, das über 100 000 Negative, Tonaufnahmen und dokumentarische Home Movies umfasst.

Fasziniert von den Bildern macht Maloof es sich zur Mission, mehr über die Fotografin, eine gewisse Vivian Maier, herauszufinden. Nachdem erste Google-Recherchen nichts ergeben haben, findet er durch akribische Archivarbeit schliesslich mehrere Personen, die sie gekannt haben – erstaunlicherweise als Haushaltshilfe und Kindermädchen. Mithilfe deren Erzählungen rekonstruiert Maloof Stück für Stück ihre Lebensgeschichte.

So fügen sich hinter der riesigen Menge an Fotografien, die von 1950 an bis in die späten neunziger Jahre entstanden, Bilder der Person Vivian Maier aneinander. 1926 in New York geboren, verbrachte sie ihre Kindheit und Jugend zwischen Frankreich und den USA, bevor sie 1956 nach Chicago zog, wo sie den Rest ihres Lebens verbringt. Ihre bescheidene Existenz verdiente sie als Haushaltshilfe. Mit den Kindern, die sie hütete, und an ihren freien Tagen unternahm sie lange Streifzüge durch die Stadt, im Laufe derer sie obsessiv Unmengen an Fotos schoss.

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Ihre Bilder lassen sich der Street Photography zuordnen, einer Stilrichtung der Kunstfotografie, die durch spontan wirkende Bilder im öffentlichen Raum menschliche Grundsituationen einfängt und gesellschaftliche Beobachtungen festhalten möchte. Maiers Fotos zeigen Momente aus dem Alltag verschiedenster Bewohner Chicagos. Auffallend viele Frauen und Kinder sind zu sehen, ebenso viele Afroamerikaner. Liebliche Szenen wechseln sich ab mit dunkleren, teilweise brutalen und erschreckenden. Als Gesamtes wirkt das Werk wie ein Querschnitt durch das Stadtbild und durch urbanes Leben in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die technischen Eigenheiten ihrer Rolleiflex-Kamera prägen ihre Bilder: Dass die Fotografin von oben in den Sucher blicken kann, anstatt die Kamera vors Gesicht halten zu müssen, erlaubt ihr grosse Diskretion beim Einfangen von spontanen Schnappschüssen. Ausserdem erhalten die Bilder eine leichte Untersicht, da die Rolleiflex auf Brust- oder Bauchhöhe gehalten wird.

Neben den Strassenszenen finden sich in Maiers Werk auffällig viele Selbstporträts. Oft sind diese Selbstbildnisse indirekt; die Fotografin nimmt sich mit abgewendetem Blick auf, als Reflexion in Spiegeln und Schaufenstern, am Bildrand, oder sie fotografiert, als immer wiederkehrendes Motiv, den eigenen Schatten, als würde sie sich selbst mit einer geheimnisvollen Aura schmücken wollen. Dies passt zur enigmatischen Persönlichkeit Maiers, die von ihren Bekannten als zurückhaltend und mysteriös geschildert wird. Tatsächlich gekannt zu haben scheint sie niemand wirklich; sie hatte weder Ehepartner, Kinder, enge Freunde noch Kontakt zu Verwandten. Weitere Gespräche beschreiben ausgeprägte Schattenseiten ihrer Persönlichkeit: Von unbewältigten Traumas ist die Rede, von gewalttätigen Aspekten ihres Verhaltens und von Messie-Tendenzen. Aus ihren Fotos wird deutlich, dass das Dunkle und Bizarre eine starke Anziehungskraft auf sie ausübte. Einige der Bilder erinnern in ihrer Faszination fürs Randständige und Abnormale an Diane Arbus.

Die Fotografen und Experten, die Maloof um eine Einschätzung von Maiers Werk bittet, vergleichen sie in einem Atemzug mit Grössen wie Robert Frank und Helen Levitt. Umso dringlicher stellt sich die Frage, war-um sie ihr Werk zu Lebzeiten niemandem zeigte, ja viele Bilder nicht einmal entwickelte. Wollte sie es geheim halten? Die Frage danach wird zum eigentlichen Motor des Films.

Bedauerlicherweise ist der Film, obwohl er doch vom Bildersuchen und machen handelt, gestalterisch nicht sehr innovativ; zu oft greift er zum Mittel der direkten Bebilderung des Dialogs und der Voice-over. Spricht die Voice-over beispielsweise von unentwickelten Negativen, sehen wir unentwickelte Negative, und dies immer wieder. Erst im Lauf der Zeit emanzipiert sich die Bildebene etwas mehr von der Tonebene, und die Filmemacher suchen in Maiers Fotos nach Antworten auf offene Fragen, wodurch die filmische Erzählung gleich viel interessanter wird. Dennoch ist Finding Vivian Maier ein vielschichtiger, spannender und informativer Film, dem es gelingt, das Werk einer besonderen Persönlichkeit zu vermitteln, dem wir in Zukunft wohl öfters begegnen werden: Neunzig Prozent des Nachlasses sind mittlerweile aufbereitet, und Maiers Werk ist immer öfter in internationalen Ausstellungen zu sehen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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