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Flammend herz 01

Flammend’ Herz

Text: Stefan Volk / 01. Okt. 2004

Die Bilder sind ein wenig verblichen. Die «Leinwand», auf die sie gemalt wurden, hebt sich und senkt sich im Herzenstakt. Nackt ist die Haut, längst nicht mehr straff und doch nicht nur von Jahren gezeichnet. Tief in sie eingestochen bedecken Ornamente, Gesichter, Anker und Schiffe die menschliche Oberfläche. Stolz präsentieren die drei alten Männer zwischen 84 und 90 Jahren ihre über und über tätowierten Körper; nicht so sehr als lebendige Kunststücke, vielmehr als jeweils einzigartiges Lebenswerk. Mit ernsten Worten umschreiben sie in Andrea Schulers und Oliver Ruts’ Dokumentarfilm, wie sie sich Stich für Stich gleichsam selbst (neu) erfanden. Und zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenfanden, aus der heraus sie die kahlen Untätowierten bemitleideten, die zu angepasst waren, um ihr Inneres nach Aussen zu kehren. Die Motivwahl spielte dabei nur indirekt eine Rolle. Obwohl sie alle Seefahrtsbilder wie das «Flammend’ Herz» auf sich und in sich tragen, war nur einer von ihnen, der Holländer Albert Cornelissen, tatsächlich Seemann. Er ist auch der einzige, dem das Tätowieren gleichsam in den Schoss gelegt wurde: «Meine Mutter hatte zehn Schwestern. Sie alle heirateten Seemänner. Ich hatte zehn Onkel, die alle tätowiert waren und wunderbare Abenteuergeschichten erzählten. Ich hätte mir nie vorstellen können, etwas anderes als Seemann und Tätowierer zu werden.» Gerade umgekehrt verhielt es sich bei den beiden anderen. Herbert Hoffmann stammte aus einer streng puritanischen Familie, war gelernter Kaufmann und fand ähnlich wie Karlmann Richter, Sprössling einer der zehn reichsten Kieler Grossbürgerfamilien, erst recht spät zum Tätowieren, das damals, mehr noch als heute, verrufen war. Für beide verband sich damit ein Ausbruch aus beengenden sozialen Verhältnissen und ein Durchbruch zur gelebten Homosexualität. Karlmann verliess Frau und Kinder, erst sehr viel später stellte einer seiner Söhne den Kontakt zu ihm wieder her. Das Kennzeichnen des eigenen Körpers wurde zum Mittel der Selbsterkenntnis. Der permanente Selbstbeschreibungsprozess half, sich selbst zu finden und zu verwirklichen. Tätowierer und Tätowierte woben gemeinsam an einem sozialen Gewebe, dessen Zentrum über etliche Jahre in Hamburg, in Deutschlands «ältester Tätowierstube» lag, wo sie eine zeitlang zusammen arbeiteten. Bis sie sich bei der Geschäftsübergabe an Herberts Neffen gründlich zerstritten.

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Schuler und Ruts versuchen erst gar nicht, das labyrinthische Lebensgewirke ihrer Protagonisten zu entwirren, vielmehr folgen sie ihnen bei ihren Erinnerungen, reisen mit ihnen kreuz und quer von Rotterdam nach Hamburg bis nach Heiden in die Schweiz, wo Herbert heute lebt, und durch viele Jahrzehnte der Tätowier- und Kulturgeschichte. Dabei kommt der Film ganz ohne inszenatorisches Spektakel oder formale Verspieltheiten aus. Die Filmemacher nehmen sich zurück, die Kamera läuft, als filme sie das unverstellte Leben ab, und immer mal wieder streift sie in privaten Zimmern über bunte Collagenhaut, während aus dem Off das Genfer Beerdigungs-Orchester «The Dead Brothers» die gealterten Körpergemälde mit Tuba, Banjo, Akkordeon, Trommel und Gitarre musikalisch untermalt. Es ist eine humorvolle, nostalgische Bildungsreise, zu der Flammend’ Herz einlädt, mit Menschen, die vieles alleine und gemeinsam erlebt und erlitten haben und noch immer gerne davon erzählen; in Worten und auch mit ihren Körpern. Eine Reise mit «Bilderbuchmenschen», wie Herbert eine Ausstellung mit Fotografien von tätowierten Menschen überschrieb, die derart widersprüchlich sind, dass sie alle Vorurteile, die sich in einem festgesetzt haben mögen, in Frage stellen. Die Ganzkörpertätowierten Albert, Herbert und Karlmann sind drei charmante, lustige alte Männer, die sich «anständig» kleiden, gerne mal ein Schwätzchen halten und keineswegs abgehoben wirken, sondern im Gegenteil erdverbunden und, wie Herbert es formuliert, eine Vorliebe für das «Primitive» pflegen, das Gewöhnliche. Sich zu tätowieren ist für sie deshalb auch kein Spleen, kein Modespass, sondern Ausdruck innerster «Natur». Und wenn man am Ende dennoch nicht umhinkommt, die Beharrlichkeit, mit der sich vor allem Herbert und Karlmann auf das Tätowieren fixieren, ein wenig merkwürdig und engstirnig zu empfinden, es als Fetisch zu erleben, kann man es angesichts ihrer bewegten und bewegenden Geschichte(n) vielleicht doch verstehen, wenn Herbert sagt: «Mit Vorbedacht geschah es nicht, dass ich tätowiert sein wollte. Es steckte einfach in mir drin, wie eine Erbanlage, wie ein Geburtsfehler. Jeder Mensch hat seine Fehler und wenn dies ein Fehler sein sollte, dann war dies mein schönster Fehler und auch mein liebster Fehler.» Ein Fehler wäre es freilich auch, trotz solch wohlfeiler, philosophisch anklingender Worte, flammend’ herz in den Rang eines kulturhistorischen Zeitzeugnisses zu erheben. Es ist ein netter, unterhaltsamer und manchmal nachdenklicher Film über drei interessante und mitunter etwas kauzige alte Menschen. Nicht mehr, nicht weniger. Ein cineastischer Kaffeeklatsch, bei dem alte Briefe ausgegraben und Fotoalben durchgeblättert werden, man die Gedanken schweifen lässt und in Erinnerungen schwelgt.

Flammend herz 04

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2004 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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