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Glauser

Text: Doris Senn / 07. Dez. 2011

Eine spannende, illustre Figur – zweifellos: Friedrich Glauser lebte ein filmreifes Leben – ja dessen Eckpunkte würden gleich für mehrere Filme ausreichen: 1896 in Wien als Sohn einer österreichischen Mutter und eines Schweizer Vaters geboren, Kindheit in Wien, von der Schule geflogen, dann Collège de Genève, Kontakt mit der Dada-Bewegung, Fremdenlegionär, Haschisch, Morphium, Kokain, mehrere Internierungen in psychiatrischen Kliniken der Schweiz, denen er auch immer wieder entflieht, Tellerwäscher in Paris, Mineur in belgischen Kohlegruben und Krankenwärter in Charleroi, Tod im Alter von zweiundvierzig Jahren.

Nicht nur ein derart turbulentes Leben zeichnet ihn aus – Glauser, der träf und mit erfrischendem Esprit die schweizerische Befindlichkeit seiner Zeit (und die Realität in den damaligen Irrenanstalten) beschrieb und als erster deutschsprachiger Krimiautor gilt, liest sich bis heute überraschend gut und hat auch die Sujets für ein paar Klassiker des Schweizer Films geliefert: für Wachtmeister Studer (1939) und Matto regiert (1946) von Leopold Lindtberg etwa oder für Der Chinese (1978) von Kurt Gloor.

Ein schillerndes Sujet also, dem sich Christoph Kühn – dessen Œuvre vornehmlich aus biografischen Porträtfilmen besteht – in seinem Dokumentarfilm Glauser anzunähern sucht. Dabei konnte er offenbar nur auf wenig Bildmaterial aufbauen und griff dafür zu Reinszenierungen in unterschiedlichster Form: von nachgespielten Episoden, basierend auf Glausers Erinnerungen und biografischen Fakten, über die mit Bruitage zum Leben erweckten historischen Fotos bis hin zu den expressiven Darstellungen des Illustrators Hannes Binder, der Friedrich Glauser und seinen Schriften schon eine ganze Kollektion gewidmet hat. Dazu fügen sich dann noch die Aussagen von Psychiater, Psychologe, Literaturkritiker und Biograf, die das Phänomen Glauser aus ihrer Warte zu umreissen suchen.

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Ein umfangreiches Konglomerat – wobei weniger wohl mehr gewesen wäre: nicht nur auf der Tonspur, wo sich bisweilen die Off-Stimme über die Musik und diese über die Geräuschspur legt –, sondern auch auf der Bildebene, wo Dunkel, “Rausch” und Schwere vorherrschen – sei es in den nächtlichen Aufnahmen der Anstalt, in der Glauser interniert war, sei es in den insistierend wiederholten Evozierungen traumatischer Kindheitserinnerungen oder den Illustrationen Binders. Bei so viel emotionalisiertem Wieder-Erleben wirken die Äusserungen der Interviewten – die nicht für alle verortbar sind: Sind Zeitgenossen Glausers darunter? – umso fremder und steifer.

Wie schon in seinen früheren Filmen über Bruno Manser oder Nicolas Bouvier bedient sich der Regisseur Kühn auch hier der Erinnerungen und Notizen des Porträtierten, um uns eine Innenschau zu vermitteln und Einblick ins Wesen seines Protagonisten zu gewähren. So vermittelt uns die Kamera in Glauser wiederholt den alptraumhaften «Point of view» des Porträtierten und lässt uns so in das Kind Glauser oder den in der Psychiatrischen Klinik Internierten eintauchen. Doch wirkt das alles eher bemüht – und entbehrt der angepeilten Eindringlichkeit, die sich dann umso überraschender in der historischen Aufnahme eines Gesprächs mit Berthe Bendel von 1985 findet, die als wunderbare Trouvaille ebenfalls im Film zu sehen ist: Die äusserst sympathische Lebensgefährtin (und ehemalige Pflegerin) von Glauser, die er 1938 in Italien zu ehelichen gedachte, bevor er so unglückselig am Vorabend des Hochzeitstags an einem Herzinfarkt verstarb, erzählt schnörkellos und mit viel Nähe von ihrem damaligen Geliebten. Und gibt so ein ebenso schlichtes wie einfühlsames Zeugnis vom Menschen Friedrich Glauser.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2011 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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