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Theatre of Thought
© Visions du Réel

Das Mysterium soll ein Mysterium bleiben: Theatre of Thought

Gedanken über Gedanken: Werner Herzog dokumentiert seinen Tripp durch Nordamerika als «roadtrip through the mind».

Text: Fiona Kneubühler / 05. Juli 2023
  • Regie, Buch

    Werner Herzog

  • Kamera

    Luke Holwerda, Vicente Rosselot, Peter Zeitlinger

  • Schnitt

    Marco Capalbo

  • Musik

    Ernst Reijseger

Gefilmt wurde Werner Herzogs Theatre of Thought zwischen zwei Lockdowns, die Dreharbeiten bezahlte der Filmemacher zuerst aus eigener Tasche. Wie Herzog selbst beschreibt, drang das Thema dieses Films mit Vehemenz auf ihn ein und forderte, von ihm verarbeitet zu werden. Diese Spontanität und Dringlichkeit zeigt sich in den ganzen 107 Minuten des Films, der an dem diesjährigen Visions du Réel gezeigt wurde, und eigentlich Herzogs Rechercheprozess dokumentiert.

Mit seiner sonoren Stimme nimmt er die Zuschauenden mit in sein persönliches Theater der Gedanken. Er philosophiert über die Bedeutung von Hirnforschung und spricht mit Wissenschaftler:innen, die sich mit Technologien befassen, die mit Gedanken, Gedächtnis und Bewusstsein zu tun haben. Trotzdem ist der Film keine Dokumentation über das Gedächtnis oder das Gehirn, auch nicht über Technologisierung und Fortschritt. Stattdessen scheint es Herzog um die Reise selbst zu gehen, um die Begegnungen und die sich immer weiter verästelnden Gedanken über Gedanken.

Auf seinem «roadtrip through the mind» lässt sich Werner Herzog von einem interessanten Feld zum nächsten treiben. Tatsächlich ist die Verbindung zwischen den verschiedenen Forschungsgebieten nicht immer ersichtlich: zwischen Gehirn, Bewusstsein, Sinneswahrnehmungen, Schmerzempfinden und Nervensystem wird nicht unterschieden. Es werden keine Definitionen angeboten, die grössere Zusammenhänge deutlich machen würden.

Man muss sich also wundern, woran die Forschenden genau arbeiten. Doch darum geht’s Herzog scheinbar nicht: Statt nach der Funktionsweise der Erfindungen oder den Themen ihrer Forschung zu fragen, schweifen Herzogs Gedanken ab. «I admit that I literally understand nothing of this», stellt er einmal unverblümt fest, als es bei Darío Gil von IBM um Quantenmechanik geht.

Nachfragen gibt es trotzdem keine. Vielmehr wird der Blick der Kamera angezogen von den futuristischen Formen der Technik im Labor.

Ähnlich laufen auch die anderen Begegnungen ab. Den Nobelpreisträger Richard Axel, der die Funktionsweise des Geruchssinns erklären könnte, fragt Herzog nach seinem Eheleben mit der Neurobiologin Cori Bargmann und ob er glaubt, dass ein sprechender Papagei einen anderen sprechenden Papageien verstehen könne. Besonders schön ist ein Moment, in dem ein Wissenschaftler nach langer Pause feststellt, dass er nicht nur gerne mit einem Kolibri tanzen würde, sondern sich wünsche, dass dieser auch mit ihm tanzen wolle. Es ist klar, dass alle mit einer klaren Erwartung an das Treffen mit Werner Herzog kommen. Sie sind darauf vorbereitet, ihre Forschung zu präsentieren und kritische ethische Fragen zu beantworten. Konfrontiert mit den spontan-naiven Fragen des Filmemachers wie «Do fish dream?» reagieren sie beinahe schockiert.

Und nicht alle sind in der Lage, sich auf die Gedankenspielereien einzulassen. Doch gerade durch den Bruch, der in diesen Momenten entsteht, lockt Herzog die Menschen hinter der Wissenschaftsfassade hervor. Es entsteht eine leichte und doch tiefgründige Auseinandersetzung mit den Köpfen, die sich dem Verständnis des menschlichen Bewusstseins anzunähern vermögen.

 

Neben der poetischen Gesprächsführung zeigt sich auch in den filmischen Bildern immer wieder der ausgeprägte Sinn für Ästhetik, den Werner Herzog in all seinen Werken bewiesen hat. Er entschleunigt das Geschehen und lässt Zeit, um den Blick schweifen zu lassen. So entdeckt er im Hintergrund einer Interviewsituation private Tauchaufnahmen oder wartet geduldig, bis einer der Forscher:innen seine meditative Ruderfahrt beendet hat. Bei jeder neuen Begegnung lässt Herzog die Wissenschaftler:innen einige Sekunden warten, bevor er das Gespräch beginnt.

Sie blicken etwas irritiert in die Kamera und man hat das Gefühl, sie in diesen Momenten bereits zu kennen. Nicht aus der Ruhe zu bringen durch die beobachtende Kamera ist der Seiltänzer Philippe Petite, ein langjähriger Freund Herzogs, wie er im Film anmerkt. Der Künstler ist bekannt für seinen Hochseilakt zwischen den Türmen des World Trade Centers 1974. Er berichtet von der mentalen Konzentration, die das Seiltanzen erfordert. Es sei wichtig, die Angst vor dem Fallen zu vergessen, erklärt Petite, während er auf einem Abschnitt des Twin-Tower-Seils in seinem Garten hin und her spaziert.

Erst an dieser Stelle wird klarer, worauf Herzog eigentlich hinauswill. Er versucht in seinem Film, die Relativität und Konstruiertheit des Gedächtnisses und des Bewusstseins zu vermitteln: Das winzige Hydra-Tierchen mit eigenem Nervensystem kennt die Grenze zwischen sich selbst und seiner Umwelt. Woher wissen wir es? Unser Gehirn wird mit Informationen in Form von Sinneseindrücken gefüttert. Wie können wir diese in Gedanken umwandeln?

Die tiefe Auseinandersetzung Herzogs mit diesen Themen wird auch in der eingefügten Szene aus dem sowjetischen Stummfilm Earth von Alexander Dovzhenko aus den Dreissigerjahren deutlich: Ein Mann fragt seinen sterbenden Freund: «Let me know where you are: in Paradise or in Hell?» Und auch Werner Herzog will wissen: «Can we use your invention to ask someone who has just died whether they are in heaven or hell?» Wenn wir einen Gedankenbefehl auf eine Maschine übertragen können, warum können wir unsere Gedanken nicht an andere Menschen schicken? Und wo liegt die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Mensch und Maschine?

Warum der Filmemacher für diese Erkenntnis ausgerechnet mit Wissenschaftler:innen das Gespräch suchte, bleibt offen. Wären Philosoph:innen, Psycholog:innen oder vielleicht Meditationskünstler:innen nicht ebenso interessante, oder nicht bessere Gesprächspartner:innen gewesen?

Vielleicht, denn gegen Ende des Films stellt Herzog fest, dass keiner der Wissenschaftler:innen ihm die Funktionsweise des Bewusstseins erklären konnte. Hat er danach gefragt? Seine Fragen wiesen eher in die Richtung ethischer und rechtlicher Probleme, die sich aus Hirnforschung in naher Zukunft ergeben werden: Die unbegreiflichen Nanopartikel, die die eigenen Gedanken beeinflussen könnten.

Diese kritische Auseinandersetzung mit der Wissenschaft, der Autonomie der Gedanken, ist für einen Film aus der Coronazeit vielleicht etwas bitter. Anderseits wird der Film wohl gerade so auch zum Symptom der Lockdown-Zeit, in der sich jede:r in aussergewöhnlichem Ausmass mit den eigenen Gedanken, der Rolle in der Gesellschaft und dem Vertrauen in die Wissenschaft zu beschäftigen hatte: In einer Zeit voller Ungewissheiten tauchte Werner Herzog ein in ein Mysterium, das mit Theatre of Thought zwar nicht gelöst, aber in poetisch-filmischer Weise aufgezeigt wird.

Der Beitrag entstand in Kooperation mit dem Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich.

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