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Hippie Masala

Damaris Lüthi und Ulrich Grossenbacher haben sich für die Recherche und den Dreh von Hippie Masala viel Zeit genommen: Insgesamt mehr als sechs Monate waren sie in Indien unterwegs und brachten rund 120 Stunden Filmmaterial nach Hause. Dabei folgten sie dem Vorgehen der visuellen Anthropologie, was zeitintensives Anwesendsein beinhaltet: viel Aufmerksamkeit für das scheinbar Nebensächliche und Alltägliche.

Text: Doris Senn / 01. Okt. 2006

Was für eine Landschaft! Sanft gerundete Felsblöcke – wie riesige Kiesel, die Gullivers Hand im Land der Liliputs verstreute. Palmen, die sich durch die weite Ebene ziehen, und zwischen verlassenen Tempelbauten liebliche Wasserbassins, auf denen die Einheimischen mit runden Flechtbooten übersetzen. Eine Szenerie wie aus Tausendundeiner Nacht, in der auch wundersamste Begegnungen selbstverständlich erscheinen. So erging es wohl auch den Zivilisationsflüchtlingen der jüngeren Vergangenheit, die als Aussteiger in die ehemalige Tempelstadt Hampi in Zentralindien gelangten: den Hippies und Blumenkindern der sechziger, siebziger Jahre, die im östlichen Subkontinent Wege zur Spiritualität und vor allem uneingeschränkten Zugang zu Drogen suchten. Was für die meisten ein kurzer Selbsterfahrungstrip blieb, wurde für einige wenige zum «point of no return». Hier nun fand der Dokumentarfilm Hippie Masala sein bestechendes Sujet: Er stöbert die in die Jahre gekommenen Aussteiger auf und bietet Einblicke in ihre Lebensläufe.

Da ist etwa Cesare aus Italien. Wenn er mit seinen zu einem Turban geschlungenen Rastas im schilfgesäumten Wasser ein Bad nimmt, glaubt man, der Geist von Hesses Siddharta habe sich im Hier und Jetzt materialisiert. Cesare lebt schon seit dreissig Jahren in Zentralindien. Von seinem Asketenleben und dem Haschkonsum gezeichnet, lebt er in einem kleinen Ashram und wird von den Menschen der Umgebung als Guru geachtet und frequentiert. Eine Rückkehr in seine Heimat – und damit zu den Normen und Zwängen der westlichen Leistungsgesellschaft – stand für den aus wohlhabenden Verhältnissen stammenden Sizilianer nie zur Diskussion. Ebenso wenig wie für die dreiundvierzigjährige Belgierin Meera, die ebenfalls schon seit zwei Jahrzehnten als Asketin in Hampi lebt. Als Frau – und vor allem, weil sie sich keinem Guru unterordnet – hat sie einen ungleich schwierigeren Stand. Doch auch sie schlägt sich durch, lebt von Touristen, die bei ihrer Einsiedelei vorbeischauen.

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Als «Wiedergeburt» bezeichnet wiederum der holländische Maler Robert seine Begegnung mit «Mother India». Der Siebenundfünfzigjährige ist heute in zweiter Ehe mit einer Inderin verheiratet und lebt seit fünfundzwanzig Jahren in Hampi. Mit seinem sanften Charakter scheint er recht gut in seine indische Grossfamilie und seinen Lebensort integriert zu sein – ganz im Gegensatz zu einer ausgesprochen skurrilen Figur des Films: dem Emmentaler Hanspeter, der in einem Himalayadorf als Bauer lebt. Wie auch Robert wegen Drogen in seinem Heimatland verfolgt, landete Hanspeter vor drei Jahrzehnten in Indien, wo er sich nun einen grossen Bauernhof baut. Mit seinem ruppigen Umgang machte er sich bislang im Dorf wenig Freunde. Als Vermittlerin wirkt da seine indische Frau – eine Witwe, die er aufgenommen hat, die aber auch unter seinem harschen Regime zu leiden hat. Das Panoptikum der Indienreisenden schliesslich runden die südafrikanischen Zwillingsschwestern Erica und Gillian ab: bereits in die Jahre gekommene Partylöwinnen, die zwischen Ibiza und Goa hin- und herpendeln und ihre selbstgemachten Hippieklamotten verkaufen. Sie repräsentieren eine ebenso sorglose wie ignorante Gruppe von hedonistischen Aussteigern, die von Strand zu Strand bummeln – Hauptsache, die Kasse stimmt, und es ist genug Alkohol in Reichweite.

Die aus Bern stammenden Ulrich Grossenbacher und Damaris Lüthi gingen in ihrem Film von unterschiedlichen Motivationen aus: Ulrich Grossenbacher, Kameramann und Filmemacher, ging selbst Ende der Siebziger eine Zeitlang nach Indien und lernte die Aussteigermentalität von innen kennen. Als ihn vor kurzem eine Reise dorthin zurückkehren liess, entstand durch eine Begegnung mit einem ansässig gewordenen französischen Paar die Idee für den Film. Damaris Lüthi dagegen schöpft als Ethnologin aus ihrer Erfahrung mit Forschungsprojekten in Südindien. Sie weiss um das Unverständnis, aber auch die Ablehnung der Einheimischen gegenüber diesen Westlern.

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Die beiden haben sich für die Recherche und den Dreh von Hippie Masala viel Zeit genommen: Insgesamt mehr als sechs Monate waren sie in Indien unterwegs und brachten rund 120 Stunden Filmmaterial nach Hause. Dabei folgten sie dem Vorgehen der visuellen Anthropologie, was zeitintensives Anwesendsein beinhaltet: viel Aufmerksamkeit für das scheinbar Nebensächliche und Alltägliche. Das zeigt sich im Film in einer unaufdringlichen Kamera, die die ProtagonistInnen begleitet und ihr Leben und den indischen Alltag in ebenso schlichten wie betörenden Bildern einfängt – seien es Cesares Rituale, Meeras Verhandlungen mit der Visumsbehörde oder Hanspeters Keifen am heimischen Herd. Dazu gehören aber auch die Aufnahmen von der märchenhaften Landschaft in Hampi, von den Ritualen mit Kerzenlicht, von blütengeschmückten Altären, Musik und Räucherstäbchen, die mit allen Sinnen in diese magische Welt eintauchen lassen. Unvoreingenommen brachte man auch den eigenwilligeren unter den Figuren Sympathie entgegen, was sich in deren Offenheit und Unbefangenheit gegenüber der Kamera auszahlte.

Dank dem unterschiedlichen Background des Regiepaars ergibt sich mit Hippie Masala eine Hommage an diese Blumenkindergeneration, in der aber auch Fragen nach unüberwindbaren kulturellen Hürden anklingen. Diese inhärente Reibungsfläche macht den Film zu einem anregenden Erlebnis, in dem weder das Aussteigertum noch die indische Gesellschaft eine idealisierte Darstellung erfahren, sondern mit humorvoller Leichtigkeit und Differenziertheit gezeichnet werden.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2006 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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