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Il vento di settembre – storie di migranti

Zusammen mit wenigen andern Arbeiten stand sein Siamo italiani 1964 am Anfang jenes langen Kapitels, welches das entscheidende in der Geschichte des Schweizer Films werden sollte. Il vento di settembre – storie di migranti von Alexander J. Seiler kehrt heute zum Thema von damals zurück und trifft zudem (vereinzelt) wieder auf die Figuren, die schon in jenen Tagen vor der Kamera standen und die es jetzt erneut tun.

Text: Pierre Lachat / 01. Mai 2002

Was sich da vollendet, ist ein Bogen von nächstens vierzig Jahren, und er umschliesst einiges mehr als die Person und das Werk von Alexander J. Seiler. Zusammen mit wenigen andern Arbeiten stand sein Siamo italiani 1964 am Anfang jenes langen Kapitels, welches das entscheidende in der Geschichte des Schweizer Films werden sollte. Il vento di settembre – storie di migranti kehrt heute zum Thema von damals zurück und trifft zudem (vereinzelt) wieder auf die Figuren, die schon in jenen Tagen vor der Kamera standen und die es jetzt erneut tun.

Auf diesem Weg wird ein Punkt erreicht, wo diese ergiebige Periode der Schweizer Filmgeschichte womöglich an ein bestimmtes Ende stösst, jedenfalls bis auf weiteres. Siamo italiani löste etliches aus, bei weit mehr Zuschauern als nur dem Verfasser dieser Zeilen (zum Beispiel), dessen Vorfahren auch einmal bei Como über die Grenze eingewandert waren, allerdings vor 1920.

Auf ähnliche Weise könnte nun Il vento di settembre einen Abschluss und gleichzeitig den Beginn von etwas Folgendem markieren. Links und rechts haben sich die Zustände nachhaltig verworfen, ja überschlagen. Es wird keinesfalls leichter, sie zu erkunden und von ihnen zu berichten, sei’s dokumentarisch, sei’s fiktional.

Fast der doppelte Abstand

Doch keine Frage, die Autoren drehen weiter, und Seiler bleibt im Rennen. Indessen, wie sehr sie es mit einer von Grund auf veränderten Situation zu tun haben, vermag kaum eine andere aktuelle Arbeit so treffend zu veranschaulichen. Il vento di settembre belegt und thematisiert das historische Bewusstsein vom sozialen Wandel selbst ebenso wie jenes andere (fast wichtigere) von den Anpassungen, welche die Kunst des Filmemachens notwendigerweise mit zu vollziehen hat. Das Verkehrteste, was sich Seiler nachsagen liesse, wäre, er blicke ausschliesslich in die Vergangenheit, thematisch oder stilistisch, und halte bloss still – mit einem schlimmeren Wort: er wiederhole sich.

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Wenn Dokumentaristen nach den landläufigen zehn oder zwanzig Jahren ihren einstigen Zeugen nachspüren, um zu erfahren, wohin es sie verschlagen hat, enttäuscht das Ergebnis in der Regel und offenbart die Zwecklosigkeit der Übung. Es braucht offensichtlich den viel weiteren, den nahezu doppelten Abstand, den Seiler gewählt hat, ehe sich zeigen kann: die Zeugen haben dann wieder etwas zu sagen, wenn nicht nur sie selbst gebührend ergraut sind, sondern die gesamte Situation sich umgekrempelt hat, generationell und zivilisatorisch, in die sie eingespannt waren und über die weder sie noch der Autor hinausblicken konnten.

Um ihren ganzen Sinn zu enthüllen, heisst das, muss die Entwicklung gerade auch ein bisschen über die Köpfe der Protagonisten hinweggegangen sein und selbst über den des Verfassers. Il vento di settembre wird deshalb zu einem der bedeutenden Schweizer Filme der vergangenen Jahre, weil Seiler es verstanden hat, mit offenen Augen sich vom Lauf der Dinge lenken zu lassen, der so viel stärker ist als jeder noch so entschiedene Vorsatz eines wie immer weitblickenden Cineasten.

Denn gerade der Umstand, dass er schon so gut informiert war, hätte ihm zum Verhängnis werden können. Dann hätte der Film auf völlig unglaubwürdige Weise Siamo italiani lediglich verlängert. Was tatsächlich geschieht, ist das Gegenteil: je weiter er mit seinen heutigen Migrantengeschichten vorankommt, um so mehr entfernen sie sich von der ältern Arbeit. Anfangs zahlreich, werden die Zitate rasch seltener.

Kein Vergleich!

Doch an keiner Stelle kommt der Verdacht auf, da beanspruche einer, es immer schon gewusst zu haben, und die vorweggenommene Einsicht brauche jetzt bloss noch nachgewiesen zu werden. Überhaupt kann es um eines wohl beim einzelnen Migranten gehen, aber keineswegs aufs Ganze gesehen: ob sich bewahrheitet hat, was in jenen früheren Zeiten erhofft oder befürchtet wurde. Der Vergleich zwischen 1964 und heute ergibt als alleinigen Befund ganz platt und endgültig: kein Vergleich!

Die Fremd- oder Gastarbeiter, wie die aus dem Süden der Halbinsel zugewanderten Italiener im Jargon jener Jahre hiessen, fanden Verhältnisse vor, die sich nicht erst aus dem Nachhinein als regelrechte Sklavenhalterei qualifizieren. Doch sowie’s die Gegenwart betrifft, kann von einer solchen keine ehrliche Rede mehr sein. Sondern die Mehrzahl hat sich in einer gewissen materiellen Saturiertheit eingerichtet, die nunmehr auf beiden Seiten der Grenze grassiert. Und viele haben sich sogar an die kulturelle Doppelbindung gewöhnt, die durchaus ihre vorteilhaften Seiten hat

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Und das eine wie das andere lässt sich so sehr in Basel oder Zürich wie am Mittelmeer verwirklichen, ob einer nun da oder dort eingebunden sei – ganz oder nur halbwegs, auf begrenzte oder unbegrenzte Zeit –, oder ob er sich aus der Integration bereits wieder heraus gelöst hat: im Norden, im Süden oder wo immer. Mit einem Wort: die historischen Kontraste haben sich weitgehend ausgebleicht, wenn neue aufgekommen sind, betreffen sie Muslime oder Hindus, nachrückende Untertanenvölker. Die Durchlässigkeit der Bedingungen, heisst das, hat in einem dramatischen Mass zugenommen.

Zuversicht, Ausgleich, Versöhnung

Wenigstens ein Teil der Befragten hat den garstigen Realitäten widerstanden, sich Verbesserungen erdauert und leichter erträgliche Formen des Fremdseinmüssens herbeigeduldet. Noch wenn es dann niemand verbindlich aussprechen mag: nun hätte etwa die Not ein Ende und es wäre da mehr gefallen als der berühmte Tropfen auf den heissen Stein. Dass in der Tat nur der angenehm lebt, der im Wohlstand lebt, haben sie samt und sonders begriffen, zugleich aber auch dieses andere: nur wer im Wohlstand lebt, hat etwas zu verlieren. Elend, Sklaven sind sie schon lange nicht mehr, wirklich emanzipiert sind sie anderseits noch lange nicht. (Aber wer ist es schon?)

Aus all dem ergibt sich ein merkwürdiges Paradox: dort, wo Siamo italiani eher pessimistisch geraten war und entsprechend aufbrauste und anklagte, da färbt sich nun der neue Film ziemlich zuversichtlich und um ein Haar schon ausgleichend bis versöhnlich. Und solches geschieht, angesichts der 73 Jahre des Filmemachers, wider jedes Erwarten.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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