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Dancer

La danseuse

Loïe Fuller erfand um 1900 eine ganz neue Form des Tanzes. Ihr Serpentinentanz ist uns dank des am Spektakel interessierten frühen Films überliefert. Nun ist auch Fullers Leben auf Film gebannt, in einem Biopic, das diese ungewöhnliche Kunst wiederaufleben lässt.

Text: Doris Senn / 10. Nov. 2016

«In wundersame Traumwelten fühlt man sich bei ihren überwältigenden Auftritten entrückt: eine Art sanftmütiges Teufelswerk, von ebenso poetischer wie suggestiver Magie.» So der französische Tanzhistoriker Félicien de Ménil um 1900. Er war hingerissen von den spektakulären Tanzdarbietungen von Loïe Fuller – wie viele in jener Zeit, darunter auch so illustre Persönlichkeiten wie Toulouse Lautrec, Auguste Rodin, Sarah Bernhardt oder Mallarmé. Die Tänzerin hatte eine ganz neue Form des Tanzes kreiert, wobei sie Bambusstäbe als Verlängerung ihrer Arme nutzte, um ihre aus bis zu 350 Meter Seide bestehenden Kostüme in wogende Stoffbahnen zu verwandeln und auf der Bühne in rasanter Abfolge riesenhafte Schmetterlinge, Blumenkelche und Serpentinen entstehen zu lassen. Zudem tauchte Loïe Fuller ihre Darbietungen mit grossem technischem Aufwand in viel Licht und Farben – ein Novum zu jener Zeit. Das Publikum war begeistert, während ihre Choreografie auch die Vertreter einer damals nicht minder revolutionären Technik faszinierte: Die Brüder Lumière, Georges Méliès und Léon Gaumont bannten ihre Performances auf Zelluloid, liessen anschliessend Bild für Bild handkolorieren und zu kostbaren Zeugnissen der frühen Filmgeschichte werden.

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Die französische Regisseurin Stéphanie Di Giusto, die bisher vor allem Kunstvideos und Musikclips gemacht hat, präsentiert mit La danseuse ihr Langfilmdebüt und damit ein längst fälliges Biopic der avantgardistischen Künstlerin. Zu Unrecht geriet Loïe Fuller, die in den 1890er-Jahren vor ihren unzähligen Nachahmerinnen in den USA nach Europa flüchtete, nach ihrem Tod 1928 in Vergessenheit. La danseuse erweist dieser Ikone des modernen Tanzes nun verdiente Hommage. In der Hauptrolle agiert die junge französische Schauspielerin und Sängerin Soko, ein Star der Post-Punk-Musikszene. Soko, die erfrischend nonkonformistische Musikerin mit unbändigem Temperament, scheute für ihre erste grosse Hauptrolle keinen Aufwand: Sie unterzog sich einem intensiven Training durch die Choreografin Jody Sperling, um die Auftritte im Film selbst zu performen, und macht erlebbar, wie Fuller immer wieder bis an ihre Grenzen ging und darüber hinaus. Im Film wird denn auch nebst den grandios inszenierten Vorführungen ein Blick hinter die Kulissen der scheinbar so spielerisch leichten Aufführungen gewährt. Dabei sieht man nicht nur das schweisstreibende Krafttraining, dem sich Fuller für ihre Auftritte unterzog, sondern auch ihre Zusammenbrüche oder ihren geschundenen Körper, dessen Schmerzen sie in Eisbädern zu lindern suchte.

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Sechs Jahre lang arbeitete Di Giusto am Film, der ein Herzensprojekt war und ein Budget von 8 Millio­­nen Euro verschlang. Für ihre filmische Umsetzung adaptierte sie frei Giovanni Listas Buch «Loïe Fuller, danseuse de la Belle Epoque». So romantisierte Di Giusto etwa die Herkunft der Tänzerin, indem sie ihren Ursprung im Wilden Westen der Goldsucher ansiedelte oder indem sie die fiktive Figur des Comte Louis Dorsay hinzufügte, im Film Mäzen und platonischer Geliebter der Künstlerin. In der Realität wurde die 1862 in den USA geborene Loïe Fuller in eine Schauspielfamilie hineingeboren und war kurzzeitig verheiratet, hatte anschliessend aber ausschliesslich Beziehungen mit Frauen: so mit Gabrielle, ihrer treuen Unterstützerin und Vertrauten, was der Film nur verhüllt anklingen lässt. Oder auch zu Isadora Duncan, die, von Fuller gefördert, mit ihrem neu geschaffenen erotischen Ausdruckstanz höchstpersönlich das Ende von Fullers Karriere einläutete.

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Die grösste Herausforderung in der Verfilmung waren aber die Tanzauftritte: Wie dieses für die damalige Zeit atemberaubende Spektakel inszenieren, sodass es auch für heutige Zuschauer seine Wirkung entfaltet? Dank Benoît Debie und seiner Arbeit mit der Kamera schafft dies La danseuse meisterhaft. Di Giusto inszeniert in einer frühen Schlüsselstelle des Films den neuartigen Tanz von Loïe Fuller und lässt Gänsehaut entstehen: Erst sehen wir die Tänzerin klein in einer Totalen, wie in den frühen Filmstreifen. Die Gestalt wird zusehends grösser, bis sie über den Bildkader hinauswächst, in Grossaufnahmen Körper, Stoff, Figuren die Leinwand zu sprengen scheinen und uns in die Wucht der grandiosen Performance miteinbindet. So wird die filmische Adaption zu einem Augenschmaus und lässt hoffentlich auch die Verdienste der Tanzpio­nierin im Heute nachhaltig aufleben.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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