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Nebuleuse 05

La nébuleuse du cœur

Wegen Herzrhythmusstörungen musste sich die Westschweizer Filmemacherin Jacqueline Veuve auf Anraten der Ärzte dazu entschliessen, sich einen Herzschrittmacher einsetzen zu lassen. Als versierte Dokumentarfilmerin entschloss sie sich nicht nur dazu, den ganzen Vorgang zum Thema eines Filmes zu machen, sondern darüber hinaus das Thema «Herz» von Grund auf auszuleuchten und in persönlicher Weise zu kommentieren.

Text: Gerhart Waeger / 01. Jan. 2006

Wegen Herzrhythmusstörungen musste sich die Westschweizer Filmemacherin Jacqueline Veuve auf Anraten der Ärzte dazu entschliessen, sich einen Herzschrittmacher einsetzen zu lassen. Als versierte Dokumentarfilmerin entschloss sie sich nicht nur dazu, den ganzen Vorgang zum Thema eines Filmes zu machen, sondern darüber hinaus das Thema «Herz» von Grund auf auszuleuchten und in persönlicher Weise zu kommentieren. Und da für sie das Herz nicht nur ein lebens-wichtiges Organ ist, sondern gleichzeitig auch eine Projektionsfläche verschiedenartigster volkstümlicher Vorstellungen, Überlieferungen und Legenden, Ängsten und Hoffnungen, wurde aus ihrer neusten Arbeit eine schwindelerregende Achterbahnfahrt durch das riesige Arsenal von freien Assoziationen und Konnotationen, die sich (bei ihr und andern Menschen) mit dem Begriff «Herz» verbinden und verbinden können.

Nebuleuse 06

La nébuleuse du cœur beginnt mit dem Bild der bimmelnden Glocke eines dörflichen Kirchturms. Damit soll nicht (oder jedenfalls nicht in erster Linie) die Vorstellung des «letzten Stündchens» eines Sterbenden evoziert werden, sondern – wie die Filmautorin in ihrem durchwegs selbstgesprochenen Kommentar erklärt (und mit dem Bild eines kleinen Mädchens betont) – im Gegenteil: die Vorstellung, die man ihr seinerzeit (als sie selber noch ein kleines Mädchen war) beigebracht hatte, dass nämlich ein kleiner unsichtbarer Glöckner im Innern der Brust für das Schlagen des Herzens sorge. Vielleicht wurde die alte Erinnerung durch die aktuelle Angst heraufbeschworen, die sie bei ihrer momentanen Herzschwäche empfand. Doch diese Angst wird gleich besänftigt durch die «guten» Karten, die ihr eine Kartenlegerin im nächsten Bild legt (darunter auch ein Herz-As). Wenig später (nach einem Besuch von Jacqueline Veuve in einer Kirche) sieht man die Filmautorin (bei einer Art gedanklichem Salto mortale) in einer Metzgerei ein Rinderherz kaufen, das ihr eine Freundin zerschneidet und als Delikatesse zubereitet, in die sie mutig hineinbeisst. In der vorangegangenen Szene in der Kirche wird Jacqueline Veuve ein Gemälde aus dem Jahr 1500 gezeigt, auf dem der heilige Antonius von Padua dargestellt ist, der den vornehmen Bürgern der Stadt eine Predigt hält. Darin geht es offensichtlich um einen eben verstorbenen Geizhals, unter dessen hinterlassenen Reichtümern man ein Herz entdeckt. Anscheinend hat der Mann zu Lebzeiten sein Herz mehr an seinen Besitz gehängt, statt diesen den Armen zu verteilen. Die Folge davon ist ebenfalls auf dem Bild zu sehen: Die Seele des schon zu Lebzeiten «herzlosen» Toten wird nun in der Hölle von Dämonen gequält. Eine Art moralisch zu deutender Zeichentrickfilm des Mittelalters, wie Jacqueline Veuve leicht amüsiert feststellt, die kurz darauf durch Verspeisung des Rinderherzens der Versachlichung idealistischer Herz-Vorstellungen selber eine ironische Pointe aufsetzt.

Nebuleuse 03

Jacqueline Veuve befasst sich im weiteren Verlauf des Films auch mit der rätselhaften Geschichte des Herzens von Ludwig XVII., das seit 1975 in der Kapelle von Saint-Denis in einer mit Alkohol gefüllten Kristallurne aufbewahrt wird. Es wurde 1795 vom königstreuen Arzt Philippe-Jean Pelletan dem Leichnam des im Alter von zehn Jahren an den Folgen der Kerkerhaft verstorbenen Dauphin, dem Sohn von Ludwig XVI. und dessen Gemahlin Marie Antoinette, entnommen und kam erst nach einer langen Irrfahrt durch Österreich, Italien und Spanien nach Frankreich. Anhand von gentechnischen Vergleichen der DNA des Herzens mit der Erbsubstanz heute noch lebender Nachfahren von Maria Theresia kamen belgische und deutsche Forscher zum Schluss, dass das Herz tatsächlich Ludwig XVII. gehörte. Weniger genau wurde der im Musée du Cœur in Bruxelles liegende Behälter untersucht, der das von himmlischen Pfeilen durchbohrte Herz der Teresa von Avila enthalten soll. Auch hier hat sich Jacqueline Veuve umgesehen.

Kultur- und geistesgeschichtliche Exkurse dieser Art wechseln ab mit Themen rund um tatsächliche Herztransplantationen. Jacqueline Veuve unterhält sich mit Patienten, die eine solche Transplantation hinter sich haben und sich an ihre diesbezüglichen Erlebnisse erinnern: das bange Warten, ob ein mit ihrem eigenen Organismus kompatibles Herz rechtzeitig gefunden wird, die angstvollen Stunden, wenn der eigene Körper das fremde Organ abzustossen scheint, nicht zuletzt aber auch die Frage nach der anonym bleibenden Person des Spenders und dessen möglichem Einfluss auf die eigene Persönlichkeit. Hat man als Intellektueller das Herz eines Rennfahrers erhalten? Als Mann dasjenige einer Frau? Als Weisser dasjenige eines Farbigen? Einzelne Patienten beklagen sich über Nebenwirkungen der unerlässlichen Medikamente, andere über eine überraschende Gewichtszunahme. «Ohne Herz, keine Seele», glaubt einer der Befragten. Wie aber passt sich die eigene Seele dem neuen Herzen an? Jacqueline Veuve sind solche Grundsatzfragen nach der eigenen Identität letztlich erspart geblieben. Doch die Operation zur Einsetzung des Herzschrittmachers sowie die Unterredungen mit ihren Ärzten haben ihre Aufmerksamkeit geschärft und die Voraussetzungen für jene Empathie geschaffen, die sie nun ihren Gesprächspartnern und deren Sorgen entgegenbringt. Damit weckt sie deren Vertrauen und schafft jene Atmosphäre, die der zuweilen kühl anmutenden Stringenz des Dokumentarischen jene Wärme verleiht, die man, um beim Thema zu bleiben, als Herzlichkeit bezeichnen darf.

Nebuleuse 01

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2006 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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