Filmbulletin Print Logo
L abri 01

L'Abri

Im Alltag schauen wir weg, beeilen uns, schnell am ausgestreckten Becher vorbeizukommen, damit ein schlechtes Gewissen nicht ernsthaft aufkommt. In seinem neuen Film richtet Fernand Melgar seinen Blick ganz direkt auf die Obdachlosen, die im winterlichen Lausanne Nacht für Nacht zum Zivilschutzbunker pilgern. Damit zwingt er uns, mindestens hundert Minuten lang hinzusehen.

Text: Tereza Fischer / 24. Sep. 2014

Im Alltag schauen wir weg, beeilen uns, schnell am ausgestreckten Becher vorbeizukommen, damit ein schlechtes Gewissen nicht ernsthaft aufkommt. In seinem neuen Film richtet Fernand Melgar seinen Blick ganz direkt auf die Obdachlosen, die im winterlichen Lausanne Nacht für Nacht zum Zivilschutzbunker pilgern, in der Hoffnung, einen Übernachtungsplatz zu ergattern. Damit zwingt er uns, mindestens hundert Minuten lang hinzusehen, und schafft damit einen gesellschaftlich relevanten Film.

Die Krise, von der der Film lebt, spielt sich täglich vor den Toren des Bunkers ab, denn von den regelmässig etwa siebzig Obdachlosen werden nur fünfzig für die Nacht aufgenommen. Die meisten stammen aus Rumänien oder Tunesien, nur wenige sind Schweizer. Bevorzugt werden Frauen, Kinder und Betagte aufgenommen, die anderen, meist alleinstehende Männer aus Afrika, müssen bei Regen und Schnee draussen übernachten.

Ein halbes Jahr hat Melgar gefilmt. Mehrmals wiederholt sich die Einlassszene, in der Sozialarbeiter auswählen, wer Vorrang vor den anderen bekommt. Kein leichter Job. Aber natürlich nicht zu vergleichen mit dem Schicksal jener, die im «Rolex-Land» auf Arbeit und ein Stück des Reichtums hoffen, dabei aber ganz unten landen. Die Kinder mittendrin. Die Repetition wirkt auch erzählerisch ermüdend und transportiert damit ein kleines Stück weit das Lebensgefühl aller Beteiligten. Abwechslung gibt es kaum, der Film stellt deshalb jedes Mal einen weiteren Aspekt dieses Alltags vor.

L abri 02

Bemüht um eine ausgeglichene Darstellung setzt Melgar auf Beobachtung, ohne Kommentar oder schriftliche Informationen, wie schon in Vol spécial. Der Direct-Cinema-Gestus hat jedoch seine Tücken, denn er evoziert nicht nur einen ästhetischen, sondern auch einen moralischen Anspruch an Objektivität. Dass dies nicht einzuhalten ist, ist längst bekannt. Und eine kontrastierende Montage trägt ihren Teil dazu bei. In L’abri enthüllen die vermeintlich ebenfalls beobachteten Unterhaltungen zwischen den Leidensgenossen die Konstruktion dahinter. Sie wirken gestellt, was sich insbesondere an den Telefonaten des Mauretaniers Amadou Sow zeigt, bei denen ein Mikrofon am Handy platziert wurde, um auch die Leute am anderen Ende der Leitung zu hören. Gedacht sind die Gespräche vor allem als informative Einschübe. Sie wirken allerdings weniger authentisch als vielmehr didaktisch.

Dennoch sind es gerade diese Hintergrundinformationen, die Interesse wecken: Warum ist das System in Genf anders als in Lausanne? Warum nimmt jemand dieses «Scheissleben» auf sich? Im Fall von Amadou wird die Motivation ansatzweise greifbar, wenn in den Gesprächen deutlich wird, dass es um Würde geht und um die Unmöglichkeit, mit leeren Händen nach Hause zurückzukehren.

In den Wiederholungen spitzen sich auch die Dissonanzen zwischen den Roma und den afrikanischen Migranten zu. Aber auch die Hilflosigkeit der Sozialarbeiter wird spürbarer, trotz des patriotischen Chefs der Anlage, der morgens eintrifft, um gleich Kritik zu üben. Er verkörpert die Regeln, das “böse” System, das das wirkliche Problem zu sein scheint. Mit dem Verzicht auf Kommentare ermöglicht Melgar aber eine offene Lesart und liefert damit allen Seiten Argumente: So können die einen beklagen, der Staat stelle nicht genügend Übernachtungsplätze zur Verfügung, die anderen, dass (EU-)Ausländer in die reiche Schweiz gelockt werden und das Sozialsystem belasten. Das können allerdings nur verkürzte, emotionale Schlussfolgerungen sein, denn eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema ist aufgrund der fehlenden Komplexität und der offengebliebenen Fragen nicht möglich.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Kino

25. Apr. 2012

Bel Ami

Guy de Maupassants Roman «Bel Ami», 1885 veröffentlicht, wurde bereits mehrmals für die Leinwand adaptiert, am bekanntesten in den Versionen von Willy Forst (1938) und Louis Daquin (1955). Das britische Regie-Tandem Declan Donnellan und Nick Ormerod hat nun, basierend auf einem Drehbuch von Rachel Bennette, eine enge Anlehnung an die literarische Vorlage versucht.

Kino

16. Dez. 2015

Carol

Patricia Highsmiths «Carol» ist die Geschichte einer «ungewöhnlichen Liebe», die, noch ungewöhnlicher für die damalige Zeit, in ein Happy End mündet. Todd Haynes verfilmte nun den Roman, basierend auf dem Drehbuch von Phyllis Nagy, welche die 1995 verstorbene Highsmith persönlich gekannt und das Script rund fünfzehn Jahre lang mit sich herumgetragen hatte.