Zeitdruck, ständige Beobachtung und wenig Schlaf. Ein Leben auf der und für die Strasse. «Es ist sein Lkw, weisst du? Es ist sein ganzes Leben.» Die von Worte von Mathieu, einem von vier porträtierten Lkw-Fahrern, sind eine simple und dennoch tiefblickende Erklärung dafür, weshalb er und andere sich tagtäglich hinters Steuer setzen und den Widrigkeiten trotzen.
Les Vies d’Andrès ist der erste Film, bei dem Baptiste Janon (Dernière pêche) und Rémi Pons zusammen Regie führen. Aus der Beifahrerperspektive geben sie einen Einblick in die Arbeit von Mathieu, Houcine, Tristan und Julien auf den Strassen Frankreichs. Angereichtert wird das Filmmaterial mit Zitaten aus B. Travens Roman «The Carreta», vorgelesen von Marie Denys. Das Buch handelt von Andrès Ugalde, einem Fuhrknecht im Mexiko der 1920er Jahre. Die Brücke zwischen dem Fuhrknecht und den von Zeitplänen geknechteten Chauffeuren trägt mit dazu bei, das Transportwesen der Globalisierung zu transzendieren und Grundfragen über das menschliche Sein zu stellen.

© Visions du Réel/DOK MOBILE/Hélicotronc
Der Film springt hin und her zwischen den vier Protagonisten, sowie von der Fahrbahn zum Hauptquartier der Firma Paquet, für die sie arbeiten. Dort werden Telefonate geführt, Strecken geplant, Preise verhandelt und Fahrer daran erinnert, dass sie von der Zentrale aus über die Geolokalisation beobachtet werden. Das Durcheinander der Stimmen ist stets im Hintergrund zu hören und kontrastiert so mit der Ruhe der Strasse.
Eine Figur von Grogu (aus der Serie The Mandalorian), die vom Armaturenbrett aus nach draussen blickt, Rauchen während der Fahrt oder eine Präferenz für analoge Landkarten – der Film fängt Details im Leben der Fahrer ein und individualisiert so die Lieferanten, die sonst bloss mit dem Firmenlogo auf ihrem Wagen assoziiert werden.
Das Team hinter der Kamera ist zwar nicht zu sehen, dennoch ist seine Präsenz im Film spürbar. Immer wieder werden Fragen aus dem Off gestellt oder die Filmsituation direkt benannt. Die gemeinsame Zeit in der Kabine wird fühlbar, ohne die Präsenz der Protagonisten zu tangieren.

© Visions du Réel/DOK MOBILE/Hélicotronc
Während der Fahrten durch Tag und Nacht auf den Strassen Frankreichs kommen die Schattenseiten des Lkw-Lebens zur Sprache. Arbeit und Schlaf: Für mehr bleibt kaum Zeit übrig. Routen durch Paris, und dennoch nie den Eiffelturm gesehen. Fehlende Dokumente oder streikende Fahrzeuge sind ein Performance-Killer, aber in der Branche unausweichlich. Die Kund:innen wollen ihre Bestellungen sofort haben, und Menschen hören nie auf, zu essen, weshalb auch die Fahrten der Fahrer nie wirklich ein Ende finden. Kaum ist der Zielort erreicht, geht es schon wieder zurück, um die nächste Ladung für den Transport zu holen. Die damit verbundenen Opfer werden weder wertgeschätzt noch finden sie einen Niederschlag im Lohn. Wer nicht abliefert, wird ersetzt.
Les Vies d’Andrès gibt Einblick in das Leben innerhalb der Lkw-Kabine und in ein System, welches aufgrund von steigender Nachfrage und steigendem Druck nur schwer zu durchbrechen ist. Der Film gibt den stillen Helden der Strasse ein Gesicht und erinnert daran, dass nicht nur die Ware einen langen Weg hinter sich hat. Es sind die Menschen hinter dem Steuer, die die Gesellschaft am Laufen halten.
Junge Kritik
Diese Kritik entstand im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) am Dokumentarfilmfestival Visions du Réel 2025 in Nyon.