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Little Girl Blue

Wie in ihrem viel gelobten und ausgezeichneten Kurzfilm Summertime, nimmt sich die einunddreissigjährige Schweizerin ungarischer Abstammung wieder den Freuden und Nöten Heranwachsender an. Vor allem den Nöten.

Text: Birgit Schmid / 01. Okt. 2003

«Sit there, count your little fingers/ Unhappy little girl blue./ Sit there and count the raindrops/ Falling on you./ It’s time you knew/ All you can ever count on/ Are the raindrops/ That fall on little girl blue./ (…)». Die Zeilen (sie kommen im Film aber nicht vor) aus dem Song von Richard Rodgers und Lorenz Hart, dessen Titel dem ersten langen Spielfilm von Anna Luif die Überschrift gibt, beschreiben treffend die Gefühlslage der vierzehnjährigen Protagonistin Sandra. Wie in ihrem viel gelobten und ausgezeichneten Kurzfilm Summertime, nimmt sich die einunddreissigjährige Schweizerin ungarischer Abstammung wieder den Freuden und Nöten Heranwachsender an. Vor allem den Nöten: Warum werden die jungen Jahre in der Erinnerung eigentlich immer so verklärt? Es muss das intensive Fühlen sein, das himmlische und das höllische, das die Eifersucht der unaufgeregten Erwachsenenroutine weckt.

Die Heldin in Little Girl Blue erlebt die Unsicherheit und Selbstzweifel dieser Achterbahnphase keineswegs als Privileg. Sandra ist soeben mit Eltern und Baby-Schwester in ein neues Wohnquartier gezogen, und das Schicksal als Aussenseiterin ist dem scheuen Mädchen gewiss. Zumal sie mit der aggressiven «girl culture», die ihre Klassenkameradinnen zur Schau tragen, alles andere als vertraut ist. Als sie sich in den hübschen Töfflibueb Mike verliebt, verfliegt zumindest die Traurigkeit ein wenig. Nicht für lange, denn schon bedrohen Sandras Vater und Mikes Mutter das zarte Glück. Die beiden, die sich von früher kennen, geben nun eben der Sehnsucht zurück in die Zeit des emotionalen Schleudergangs nach, lassen die familiäre Verantwortung fahren und türmen für ein Liebeswochenende. Sandra, die vom Verrat weiss, will um alles in der Welt nicht, dass ihre neue Flamme davon erfährt.

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Little Girl Blue, im ausgewogenen dramatischen Dreieck erzählt (als Co-Autor fungiert Micha Lewinsky), sucht die Nähe zu einer Generation. Zwar gehört das Ringen um Selbstbehauptung und der Druck des Dazugehörens zu jeder Pubertät. Die besagte Mädchenkultur (frühreife «Fräuleins») aber ist ganz heutig; ebenso der «megacoole» und «lässige» Slang – Identifikationsmerkmal. Die Regisseurin findet einen Draht zum jugendlichen Wesen; das beweist die gute Schauspielführung, allen voran bei der talentierten Hauptdarstellerin, der fünfzehnjährigen Zürcher Gymnasiastin Muriel Neukom.

Little Girl Blue ist leichthändig inszeniert, setzt auf die Melange von Emotionen und Humor; geht aber nie so tief wie etwa die Mädchen-Pubertätsdramen von Léa Pool oder der körnige Töfflibuebfilm Ter Fögi ische Souhung von Marcel Gisler. Das dramatische Dreieck verlangt Konzessionen; ist eben abgerundet und ohne Ecken – also eher harmlos.

Anna Luifs eigene Handschrift zeigt sich hingegen eindrücklich in der Bildsprache. Ihre statische Kamera geduldet sich, die Kadrierung ist sorgfältig gewählt. Mit wenigen Einstellungen fängt sie die Stimmung der anonymen Wohnsiedlung ein. Auch der Einsatz von Farbe erhält bei ihr eine dramaturgische Funktion (Little Girl Blue trägt natürlich blau), und überhaupt überlässt die Regisseurin auf formaler Ebene nichts dem Zufall.

Es passt, dass gerade sie mit Little Girl Blue den ersten vollständig digital gedrehten Schweizer Spielfilm vorlegt. Das verwendete High-Definition-Format, das im Rahmen eines Forschungsprojekts der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich erarbeitet wurde, hat eine flächige Ästhetik, intensive Farben und strahlt allgemein eine Künstlichkeit aus – Charakteristika, die Luifs Inszenierungsstil des Konturierens entgegenkommen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2003 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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