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Loin des hommes 08

Loin des hommes

Algerien im Winter 1954, die Auflehnung gegen die französischen Kolonialisten ist in vollem Gang. Daru, ein in Algerien geborener Franzose, ahnt hiervon kaum etwas. Zu abgelegen ist die Schule, in der er Kindern schreiben, lesen und rechnen beibringt. Eines Tages taucht ein örtlicher Polizist auf, mit einem Gefangenen namens Mohamed im Schlepptau.

Text: Michael Ranze / 17. Juni 2015

Algerien im Winter 1954, die Auflehnung gegen die französischen Kolonialisten ist in vollem Gang. Daru, ein in Algerien geborener Franzose, ahnt hiervon kaum etwas. Zu abgelegen ist die Schule, in der er Kindern schreiben, lesen und rechnen beibringt. Eines Tages taucht ein örtlicher Polizist auf, mit einem Gefangenen namens Mohamed im Schlepptau. Er habe seinen Cousin getötet, so der Polizist, nun müsse Daru ihn in den nächsten Ort bringen. Daru weigert sich – einen Mann zur Hinrichtung zu führen, ist nicht sein Ding. Doch als Angehörige des Getöteten gewaltsam Mohameds Herausgabe fordern und die Schule belagern, fühlt sich der Lehrer moralisch verpflichtet, den Gefangenen zu begleiten. Zu Fuss kommen die beiden Männer nur schwer voran, es geht durch karge Gebirgslandschaften und verlassene Dörfer, sie sind Regen, Sturm und Kälte ausgesetzt. Und der Gewalt: Rebellen nehmen Daru und Mohamed als Geiseln und missbrauchen sie als lebende Schutzschilde gegen die Franzosen, die mit äusserster Brutalität vorrücken. Doch da hat sich die pragmatische Beziehung von Herr und Gefangenem längst in Freundschaft verwandelt.

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Algerien im Winter 1954? Mitunter scheint man sich als Zuschauer ganz woanders zu befinden, in einem anderen Land, in einer anderen Zeit, in einem anderen Genre, dem Western nämlich. Hier wird, nach Albert Camus’ Kurzgeschichte «Der Gast», geritten und geschossen, die Landschaft durchmessen und dem Feind Paroli geboten. Einige Genremotive scheinen Regisseur David Oelhoffen direkt beeinflusst zu haben. So geht die Verteidigung der kleinen Schule auf Howard Hawsks Rio Bravo (respektive El Dorado) zurück, ihre örtliche Isoliertheit erinnert an die einsam gelegene Farm in John Fords The Searchers, das Motiv der Gefangenenbegleitung gegen alle Widerstände stammt aus Delmer Daves’ 3:10 to Yuma. Viggo Mortensen hingegen spielt die Hauptfigur als moralisch integren Loner, der in seiner Aufrichtigkeit und Entschlussfreude Henry Fondas Westernhelden, Wyatt Earp in My Darling Clementine etwa, am nächsten kommt. Darüber hinaus spricht er fliessend Französisch und Arabisch – Beweis seines Engagements für dieses Projekt. Seine Physiognomie, verpflanzt in die Einsamkeit der Natur, ausgesetzt der Urkraft der Elemente, erinnert zudem an seine Rolle in Lisandro Alonsos Jauja. Fast hat man den Eindruck, als wolle Mortensen sich bewusst von seinem Starruhm lösen und nach neuen Herausforderungen suchen, die ihn von Hollywood wegführen.

Die Vielzahl der Bezüge täuscht nicht darüber hinweg, dass Loin des hommes eigenständig funktioniert. Es gibt einen moralischen Konflikt, der gelöst werden muss, zwei integren Männern wird eine unmögliche Entscheidung abverlangt. Ihre wachsende Freundschaft, die immer auch von Verständnis für den kulturellen Hintergrund des anderen zeugt, gerät darum allmählich zum Zentrum der Erzählung. Den visuellen Rahmen hierfür bilden sorgfältig austarierte, atemberaubend eingefangene Breitwandbilder von Wüsten und Berglandschaften, die nur selten von schwach ausgetretenen, staubigen Pfaden gegliedert werden. Die Extreme des Wetters und die Schroffheit der Natur dienen dabei einem wichtigen dramaturgischen Zweck: Dies ist ein feindliches Land, das zudem durch einen Krieg ins Chaos gestürzt wird. Der eindringliche Soundtrack von Nick Cave und Warren Ellis unterstreicht diese Essenz. Er vermeidet exotische Klischees und webt einen faszinierenden Klangteppich, der einen förmlich in das Geschehen zieht. Einmal aber sorgen die Wetterkapriolen für erlösenden Humor: Mohamed und Daru eilen in strömendem Regen schutzsuchend in ein Backsteinhaus. Doch es hat kein Dach mehr: «Laughing in the rain».

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/2015 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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