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Lost Boys (and Girls)

Im Nonstop-Filmreigen von Cannes 2018 kann man schon mal den klaren Blick verlieren. Mit ein wenig Abstand aber wird die Qualität eines Filmes wie Lee Chang-dongs Burning sichtbarer (während David Mitchells Under the Silver Lake im schaler erscheint). Teil 7 unserers Festivalblogs.

Text: Tereza Fischer / 17. Mai 2018

Gestern befiel mich eine grosse Müdigkeit. Obwohl ich sonst kaum Probleme damit habe, im Kino wach zu bleiben, konnte ich mich gestern nicht mehr wehren und habe ganze zwei Drittel eines Films verschlafen. Es stellt sich gegen Ende des Festivals (und bei täglich drei Filmen) noch eine andere Art der Müdigkeit ein, eine, die mein Urteilsvermögen angreift. So war ich bei den anderen beiden Filmen gestern, Robert David Mitchells Under the Silver Lake und Lee Chang-dongs Burning, gleich im Anschluss an die Visionierungen etwas ratlos. Vieles gefiel mir, mit anderem konnte ich noch wenig anfangen. Bei Pawlikowskis [art:am-ende-ist-die-liebe-verloren:Zimna wojna], Alice Rohrwachers [art:frauenpower:Lazzaro Felice] oder bei Hirokazu Kore-edas [art:familienbande:Shoplifters] gab es noch keine Zweifel an der Qualität dieser Filme. Aber auch bei schlechten und mittelmässigen Filmen fiel es leichter, rasch ein präziseres Gefühl und Urteil zu entwickeln.

Nicht nur jetzt, sondern bei allen Filmen, zeigt sich, dass eine gewisse Distanz klärend wirkt. Während Under the Silver Lake im geistigen Verdauungsprozess zu einem faden Brei mutiert ist, wuchs Burning zu einem überraschenden, poetischen Bild der koreanischen Gesellschaft an. Die beiden Filme weisen erstaunlich viele Parallelen auf. In Under the Silver Lake weiss der (freiwillig) arbeitslose, gelangweilte Sam nicht wohin mit sich in Los Angeles, der Stadt der Träume, bis er seine Nachbarin, eine verführerische, geheimnisvolle Schönheit, kennenlernt. Kaum ist er ihr etwas nähergekommen, verschwindet sie jedoch spurlos. Getrieben vom Wunsch, das Geheimnis ihres Verschwindens zu lösen (und weniger, weil er in sie verliebt wäre), gerät er in eine surreale Welt mitten in L.A. Die Filme, Stars und Legenden scheinen aus allen Ritzen dieser Stadt zu dampfen und Sams Leben in eine aufregende Mystery- und Abenteuergeschichte zu verwandeln.

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Auch in Burning verschwindet eine junge Frau, worauf der Protagonist sie verzweifelt sucht. Jongsu möchte Schriftsteller werden und hält sich mit unbedeutenden Jobs über Wasser. Eines Tages begegnet er zufälligerweise der ehemaligen Schulkollegin Haemi wieder und erliegt ihrem Charme. Die Begegnung inspiriert ihn dazu, seinen Job aufzugeben und zurück aufs Land ins Haus seines Vaters zu ziehen, um dort zu schreiben. Als Haemi aber von einer Reise nach Afrika mit dem smarten und reichen Ben zurückkehrt, ist Jongsu nur noch das fünfte Rad am Wagen. An einem gemeinsamen Abend in Jongsus Haus nahe der nordkoreanischen Grenze verrät Ben Jongsu seine Vorliebe, Gewächshäuser anzuzünden, und verspricht ihm, bald eines ganz in der Nähe zu zerstören. Das nimmt Jongsu wörtlich und als danach Haemi verschwindet, ist er verzweifelt damit beschäftigt, sie und das abgebrannte Gewächshaus zu suchen.

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Die Orientierungslosigkeit der beiden Protagonisten und die Suche nach einer verschwundenen Frau sind nur die augenfälligsten Ähnlichkeiten zwischen den beiden Filmen. Das Mystery-Element verbindet sie ebenfalls, wobei Lees Films in einer faszinierenden Schwebe bleibt, ohne je den Verbleib von Haemi zu klären. Eine kurze Szene weist darauf hin, dass wie in Under the Silver Lake ein See das Geheimnis bergen könnte. Beide Männer pflegen ihre sexuellen Fantasien: Während der Mittdreissiger in L.A. Pornos konsumiert und Frauen wie ein Fünfzehnjähriger angafft, entwickelt Lee Chang-dong für seine Figur eine etwas interessantere Variante und lässt Jongsu jeweils in Haemis Zimmer masturbieren, während dieser den Fernsehturm vor dem Fenster ansieht. Auch lassen sich beide Männer von verdächtigen Typen leiten, die scheinbar mehr über die Welt wissen, als sie, und das Geheimnis für sich spielen lassen. Und beide begehen schliesslich einen Mord. Das alles sind jedoch bloss oberflächliche Ähnlichkeiten.

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Obwohl Under the Silver Lake durchaus schöne Referenzen auf B-Movies und L.A.-Noir-filme enthält, ist vieles blosse Spielerei und simpler Witz. Während die erste Hälfte des Films noch vielversprechend ist und man auch auf die Intensität und den Reichtum von David Lynchs Mulholland Drive hofft, hält das Ganze nicht wirklich zusammen und zerfällt in einen eher uninteressanten Trip, der mit Verweisen auf Popkulturelles überladen wirkt. Lee Chang-dong, dessen Film auf einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami basiert, ist hingegen ein poetisches Porträt einer verlorenen Generation gelungen, für die die Welt ein Geheimnis ist, das sie nicht entschlüsseln kann. Etwas stimmt nicht, doch man weiss nicht was. Auch in Korea sind viele junge Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen und wütend auf ein System, das ihnen wenig Chancen auf eine sinnvolle Zukunft bietet. Sie wissen zwar, den «kleinen Hunger» mit Lebensmitteln zu stillen, doch dem «grossen Hunger» nach dem Sinn des Lebens sind sie ohnmächtig ausgeliefert. Man kann es auch so sagen: In Under the Silver Lake passiert viel, ohne dass es eine Bedeutung hätte; in Burning passiert nichts, meint aber sehr viel.

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