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Massgeschneidertes Programm – Houdini, ein neues Miniplex in Zürich

Langsam, aber stetig sinken die Zuschauerzahlen und stimmen die Kinobranche nicht gerade optimistisch. Trotzdem entstehen in den nächsten drei Jahren in Zürich einundzwanzig neue Säle. Dabei sind Anpassungen der altbewährten Kinobetriebe an die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Mut zu Experimenten gefragt.

Text: Tereza Fischer / 01. Juli 2014

Langsam, aber stetig sinken die Zuschauerzahlen und stimmen die Kinobranche nicht gerade optimistisch. Trotzdem entstehen in den nächsten drei Jahren in Zürich einundzwanzig neue Säle. Dabei sind Anpassungen der altbewährten Kinobetriebe an die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Mut zu Experimenten gefragt.

Mit dem Kino Houdini entsteht nun als Teil der innovativen Wohn- und Gewerbegenossenschaft Kalkbreite ein neues Kino, das von den Betreibern, der Neugass Kino AG, als «Miniplex» bezeichnet wird: fünf Säle mit insgesamt «nur» 212 Sitzplätzen. Wie schon bei den beiden Schwesterbetrieben Riffraff in Zürich und Bourbaki in Luzern gehört auch hier ein Gastroteil dazu. So entsteht nach bewährtem Rezept ein multifunktionaler Ausgeh-Ort. Kino und Bar zeichnen sich dabei durch eine verschachtelte Architektur und eine warme Farb- und Materialienkombination aus. Von der Lounge im Mezzanin, die das Herz des in die Höhe ausgerichteten Entree- und Barraums bildet, öffnet sich der Blick gleichzeitig auf die verschiedenen Ebenen des Inneren und in den urbanen Aussenraum. Die fünf Säle sind wie Würfel ebenfalls in die Höhe angeordnet. Der kleinste umfasst gerade mal 32 Plätze, wobei der Beinraum in allen Sälen grosszügig bemessen ist und Sitzkomfort verspricht.

Den Betreibern der drei Kinos ist neben der Kontinuität und dem Willen, Wege zu finden, um unabhängig von Subventionen bestehen zu können, Innovation wichtig, sagt Frank Braun, Leiter Programmation und Geschäftsleiter der Neugass Kino AG, bei der Begehung der Baustelle. Auch im Miniplex Houdini zeigt sich zum einen die Grundhaltung, dass Kino als Institution zu erhalten sei, weil es gesellschaftliche Funktionen erfüllt und ein urbanes Phänomen darstellt, zum anderen stellt es den Versuch dar, auf die sich verändernde Kinosituation zukunftsorientiert zu reagieren. Nicht mit einem vollkommen neuen Konzept, aber mit der Adaption von erfolgreichen Modellen und deren Kombination.

So erlaubt die Grösse der Säle, die Schwelle der Wirtschaftlichkeit schneller zu erreichen, und sie ermöglicht Experimente. Zum Beispiel eignet sich das Houdini für eine neue Art des Kinobesuchs, der in anderen europäischen Ländern bereits praktiziert wird. In Holland und in Deutschland beispielsweise können Zuschauer einen Film auswählen, den sie im Kino sehen wollen. Wie das funktioniert, zeigt die Website wewantcinema.de, ein partizipatives, auf Social Media basiertes Tool. Dort werden Spielzeiten in Kinos angeboten, die man buchen und dafür einen Film programmieren kann. Innerhalb einer bestimmten Frist ist ein Minimum an zahlenden Mitzuschauern zu mobilisieren. Ist die Mindestzahl erreicht und der Film erhältlich, findet die Vorführung statt. So können sich Zuschauergruppen mit ähnlichen Filmvorlieben zusammenfinden und beispielsweise eigene Special-Interest-Filmfestivals veranstalten. Für die Schweizer Version dieser Plattform scheint das Houdini mit den überschaubaren Sälen ideal. Die Idee eines massgeschneiderten Programms gehört im Houdini ohnehin zum zentralen Konzept, wie Frank Braun im Interview erläutert.

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FILMBULLETIN Wie sind Sie auf den Namen Houdini gekommen?

FRANK BRAUN Wir sind ähnlich wie beim Riffraff vorgegangen. Wir wollten nicht mit einem traditionellen Kinonamen Nostalgie heraufbeschwören, sondern mit einem neuen Namen einen Neustart markieren. Ein programmatisches Vorgehen. Wir suchen nach Wegen, wie Kino in der Zukunft funktionieren kann. Auch wirtschaftlich funktionieren kann. Wichtig war auch die lautmalerische Qualität des Wortes, das sowohl als Name für ein Kino als auch für eine Bar funktioniert. Die Reminiszenz an den bekannten, oder vielleicht eben auch nicht so bekannten, Varieté- und Entfesselungskünstler Harry Houdini
ist durchaus willkommen.

FILMBULLETIN Die Wenigsten wissen wahrscheinlich, dass Houdini auch Schauspieler und Filmregisseur war und nicht nur Zauberkünstler.

FRANK BRAUN Ja, er war sicher jemand, der für Risiko stand, für Sensation und Spannung sorgte. Und das in einer Zeit, als sich vieles wirtschaftlich und politisch im Umbruch befand. Gleichzeitig begann mit der Erfindung der Kinematografie ein neues media-les Zeitalter. Es verwundert nicht, dass er als Performancekünstler versucht hat, seine Kunst mit dem neuen Massenmedium noch weiterzutreiben.

FILMBULLETIN Sie versuchen ja auch etwas Neues und nennen diese Kinoform «Miniplex». Was muss man sich darunter
vorstellen?

FRANK BRAUN Wir erfinden das Kino nicht neu. Es ist immer noch ein Ort, an dem sich zu einer bestimmten Zeit in einem anonymisierten dunklen Raum zum Teil fremde Leute zusammenfinden, um sich zwei Stunden lang gemeinsam manipulieren und stimulieren zu lassen. Den Begriff Miniplex verwenden wir nicht ohne Ironie. Das Multiplex ist für die Kinowirtschaft heute das bestimmende und treibende Konzept. Dass man aus dem durchökonomisierten Konzept der Multiplexkinos auch etwas für den Independentbereich adaptieren kann, liegt für uns auf der Hand. In der Schweiz hinkt man da gegenüber dem Ausland etwas hinterher.

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FILMBULLETIN Zum Multiplex gehören Blockbuster und Popcorn. Wodurch zeichnet sich das Miniplex aus?

FRANK BRAUN Die Trennung zwischen Mainstream und Studiofilm, die sich in der Nachkriegszeit ausgebildet hat und politisch konnotiert war, ist überholt. Wir haben uns nie dafür interessiert, politisch korrektes Kino zu machen. Im Vordergrund steht für
uns ein intensives und überraschendes Kinoerlebnis für den Kopf und die Sinne. So haben wir bereits im Riffraff etappenweise mehrere Säle unter einem Dach vereint und uns dem Multiplexkonzept angenähert. Aber alles in einem überschaubaren Massstab und verbunden mit einer Gastronomie, die diese Bezeichnung auch verdient. Das gleichermassen in eine ästhetische und funktionale Form zu bringen, ist eine spannende Geschichte – neben den wirtschaftlichen Überlegungen: wie viele Säle, wie gross und so weiter. Den grundlegenden Unterschied beim Houdini machen die räumlichen Gewichtungen. Wir haben uns zugunsten einer möglichst grossen Vielfalt und Angebotspalette gegen die konventionelle Staffelung der Saalgrössen entschieden und gleichzeitig der Gastronomie mehr Platz eingeräumt. Mit dem Gedanken an die Zukunft wollen wir hier ein abwechslungsreiches und entdeckungsfreudiges Programm bieten, das keine grossen Säle füllen muss.

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FILMBULLETIN Wie wird sich das Houdini vom Riffraff unterscheiden, das sich nicht weit weg befindet?

FRANK BRAUN Es heisst ja nicht Riffraff 5, 6, 7, 8 und 9. Das ist ein Statement. Houdini wird kein Klon oder auch kein Outlet des Riffraff. Selbstverständlich werden wir die Synergien nutzen, die sich durch eine gemeinsame Geschäftsführung, Promotion und Programmation ergeben. Aber man wird in den beiden Kinos nicht die gleichen Filme sehen. Das Ziel ist jeweils ein eigenes Profil, bei dem man die Zusammengehörigkeit spürt, hinter dem aber keine Franchisestrategie steckt. Die Gestaltung und Ausstattung der Räumlichkeiten ist vom selben Geist geprägt. Ebenso der grafische Auftritt. Beide Standorte liegen in Zürich Aussersihl. Umso mehr werden Unterschiede wichtig sein, damit wir uns nicht gegenseitig das Wasser abgraben. So wie das Riffraff über die Stadt hinaus zu einem Begriff geworden ist, soll auch das Houdini eine eigenständige Ausstrahlung bekommen. Programmlich stehen uns mit
den fünf Sälen des Houdini viel mehr Möglichkeiten zur Verfügung. Wir können zusätzliche Vielfalt herstellen, indem in einzelnen Sälen alternierend Filme laufen: am Nachmittag zum Beispiel für ein ganz junges Publikum, am Abend für jene, die nach der Arbeit ausgehen. Wir wollen aber nicht nur ausgesuchte Raritäten, geschweige denn irgendwelche Ladenhüter, die sonst niemand zeigen will. Vielmehr ist es ein bewusst heterogenes Programm, das verschiedene Genres und Gattungen umfasst, das vom gehobenen Mainstreamtitel, den wir parallel mit anderen Kinos spielen, bis hin zum sehr spezifischen Nischenprodukt reicht, das im Extremfall nur fürs Quartier von Bedeutung ist. Es sind die räumliche Ausgangslage und die digitale Projektionstechnologie, die die Arbeit so spannend machen. Sie ermöglichen eine dynamische Programmation, die schnell auf das zugängliche Angebot reagieren und sich auf unterschiedliche Publika ausrichten kann.

FILMBULLETIN Steckt dahinter die Idee, ein Kino für einen Stadtteil mit einem durchmischten Publikum zu machen?

FRANK BRAUN Wir befinden uns mit dem Houdini geografisch betrachtet zwar in der Stadtmitte, aber doch dezentral vom alten Stadtzentrum, mitten in der Wohnstadt. Bei so einer überschaubaren Grösse mit gut zweihundert Plätzen, dividiert durch fünf, handelt es sich um eine ideale, fast massgeschneiderte Formel, um einen ganzen Stadtteil zu bedienen. Ich bin aber überzeugt, dass es falsch wäre, von einem Quartierkino der Zukunft zu sprechen. Es ist ein Stadtkino, das eine Ausstrahlung weit über die Stadtgrenzen hinaus haben wird.

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FILMBULLETIN Wie wird sich das Filmangebot zusammensetzen?

FRANK BRAUN Houdini ist in der Schweiz der erste Kinoneubau im Independentbereich, der von Anfang an ausschliesslich auf die digitale Projektionstechnologie setzt und deren Möglichkeiten konsequent weiterdenkt. Das heisst, wenn die Anzahl der Filmkopien nicht mehr limitiert ist, kann ein Filmtitel an beliebig vielen Orten gespielt werden. Die Nachfrage bestimmt heute die Auflage der Startkopien. Mit Mehrfachkopienstarts haben wir bereits Erfahrung. Im Riffraff ziehen wir mit, wenn wir uns ein grosses Stück des Kuchens ausrechnen können. Bei anderen Filmen ist es nicht angezeigt, den Film auch noch zu spielen. Aber bei dem guten Dutzend Filmen pro Jahr, die wir parallel zu anderen Zürcher Kinos starten, schneidet das Riffraff überdurchschnittlich gut ab. Das deutet für mich darauf hin, dass das Publikum sich bei einem Film, der an mehreren Orten spielt, nicht zwingend für das nächstbeste Kino entscheidet, sondern für die spezifische Atmosphäre, den Rahmen, in dem das Filmerlebnis stattfindet. Neben dem Programm sind es eben auch diese Rahmenbedingungen, die ein Stammpublikum bilden. Ausserdem ist der Umstand, stets eine Auswahl anbieten zu können, ein zusätzlicher Vorteil. Man kann sich an einem Ort, zu dem man Vertrauen gefasst hat, durch das Filmangebot inspirieren lassen und spontan entscheiden, welchen Film man sehen will. Deshalb wird es auch im Houdini so sein, dass wir einen Teil des Programms mit Filmen bestreiten, die woanders in der Stadt laufen. Ansonsten werden Exklusivitäten zum Zug kommen, an die entweder niemand glaubt oder die noch ganz unbekannt sind.

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FILMBULLETIN Wie finden Sie die Geheimtipps?

FRANK BRAUN Ich suche aktiv, an Festivals zum Beispiel. Aber mittlerweile finden die Filme auch den Weg zu uns. Da muss man die Möglichkeiten prüfen. Oft muss ich auch absagen, auch wenn es interessant sein könnte, sie zu spielen. Mit dem Houdini haben wir nun nicht nur mehr Leinwände zur Verfügung, sondern auch eine etwas tiefere Schwelle – nicht in Bezug auf die Qualität, sondern hinsichtlich der Kommerzialität eines Films. Für mich ist es ein Zukunftslabor. Mit den kleinen Sälen können wir einem Film eher eine Chance geben. Wir können mehr Risiken eingehen, denn die Auslastung des kleinsten Saals mit 32 Plätzen ist schnell erreicht. Für Erstaufführungen können wir eine Testbühne sein. Das eröffnet gerade unbekannten Filmemachern oder ästhetisch und inhaltlich sperrigeren Werken Möglichkeiten. Der Vorteil der kleinen Säle besteht auch darin, bei einem erfolgreichen Start – was teilweise stark von der Medienberichterstattung und Promotion abhängt – den Film in einen grösseren Saal beziehungsweise in zusätzliche Säle zu verlegen. Und wir können die Filme auch besser ausspielen. Das mag vielleicht anachronistisch erscheinen, da man immer davon spricht, dass die Dauer der Kinoauswertung kürzer wird wegen der flächendeckenden Verbreitung der Filmkopien, wegen der kurzlebigen Hypes und vor allem wegen der zunehmenden Parallelauswertungen. Der “Primeur” des Kinos ist Schnee von gestern. Bereits mit dem Riffraff sind wir oft diejenigen, die bei einem Multikopienstart einen Film am längsten spielen – dank der kleinen Säle. Sogenannte Sleeper monatelang zu spielen, rechnet sich für uns – obwohl diese womöglich in anderen Medien, auf DVD oder Video-on-Demand
erhältlich sind.

FILMBULLETIN Zum Schluss die wahrscheinlich oft gestellte Frage nach der Konkurrenz des Heimkinos. Der Unterschied gerade zu den kleinen Sälen im Houdini schrumpft. Muss man sich in diesem Fall besondere Strategien überlegen, um das Publikum zu erreichen?

FRANK BRAUN Ich wiederhole gern, was die Kinobranche stets betont, auch wenn das alleine noch kein Rezept für die Zukunft ist: Der Innovationstreiber für das bessere Filmerlebnis ist nach wie vor das Kino. Für uns ist es selbstverständlich, dass wir beim technischen Fortschritt mitziehen. Neben 3D bietet das Houdini auch einen Saal mit «Atmos», dem neusten Soundsystem von Dolby. Jeder Home-Cinema-Fan wird neidlos eingestehen, dass ein Kino nicht nur eine andere Qualität bietet, sondern auch ein radikal anderes Erlebnis. Man gibt sich einem Film im Kino anders hin. Es gibt kein “Entrinnen”. Und, Hand aufs Herz, irgendwann will man auch mal aus den eigenen vier Wänden raus, einen besonderen Ort aufsuchen, Menschen begegnen. Darauf setzen wir.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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