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Oh boy 01

Oh Boy

Alles geht schief. Irgendwie scheint Niko an diesem Tag und in dieser Nacht in Berlin das Pech an den Stiefeln zu kleben. Da bleibt die Karte im EC-Automaten stecken, beim «Idiotentest» gerät er an einen schlecht gelaunten Psychologen und kann seinen Führerschein erst einmal abschreiben. Und dann verkündet ihm sein Vater auf dem Golfplatz auch noch, dass er ihm in Zukunft kein Geld mehr überweisen wird.

Text: Stefan Volk / 05. Dez. 2012

Alles geht schief. Irgendwie scheint Niko an diesem Tag und in dieser Nacht in Berlin das Pech an den Stiefeln zu kleben. Da bleibt die Karte im EC-Automaten stecken, beim «Idiotentest» gerät er an einen schlecht gelaunten Psychologen und kann seinen Führerschein erst einmal abschreiben. Und dann verkündet ihm sein Vater auf dem Golfplatz auch noch, dass er ihm in Zukunft kein Geld mehr überweisen wird. Ganz schuldlos ist Niko an dieser Misere freilich nicht. Sein Jurastudium, das ihm sein stinkreicher, snobistischer und von Ulrich Noethen herrlich unsympathisch gespielter Vater finanzierte, hat er schon vor zwei Jahren abgebrochen, ohne es seinem Vater zu sagen. Überhaupt lässt sich der Endzwanziger ziellos und planlos durchs Leben treiben, ohne Verantwortung zu übernehmen. Auch zur medizinisch-psychologischen Führerscheinprüfung kam er zu spät. Er selbst diagnostiziert das aus dem Off so: «Kennst du das Gefühl, dass dir die Leute um dich herum merkwürdig erscheinen? Und je länger du darüber nachdenkst, desto klarer wird dir, dass nicht die Leute, sondern du selbst das Problem bist?»

Auf dem Weg zu dieser Selbsterkenntnis bleibt Niko im Spielfilmdebüt von Jan Ole Gerster wenig erspart. Das fängt schon in der ersten Szene, bei der ersten Station der episodisch aufgebauten Berlin-Odyssee an, auf der Gerster seinen tagträumerischen Antihelden begleitet: am Morgen nach einer gemeinsamen Nacht. Die junge Frau, mit der Niko diese Nacht verbracht hat, lächelt verliebt und möchte sich gleich für den Abend wieder verabreden. Niko aber druckst herum, «Termine». Als das Mädchen überschwänglich nachfragt, sieht er sie nur vielsagend an, und das Lächeln erstirbt in ihrem Gesicht, und Niko atmet schwer und seufzt zum ersten Mal unter der Last des Lebens, wie er es an diesem Tag noch oft tun wird. Es ist zum Verzweifeln, wieso muss immer alles so kompliziert sein.

Oh boy 02

Ach Junge, möchte man dem netten Niko Fischer mit den traurigen Augen zurufen, reiss dich doch endlich mal zusammen, krieg dein Leben in den Griff. Andererseits ist es wunderbar komisch, ihm dabei zuzuschauen, wie er von einer peinlichen Situation in die nächste stolpert. Die Tasse Kaffee, die er nirgends kriegen kann, weil die Kanne leer, die Maschine defekt ist oder Niko das nötige Kleingeld fehlt, entwickelt sich rasch zum Running Gag. Gleichzeitig symbolisiert sie aber auch den nötigen Antrieb, den Schub, der Niko fehlt. Träge schlurft er von einer schrägen Begegnung zur nächsten. In einem betont urban-szenigen Lokal, in dem es mal wieder keinen Kaffee gibt, trifft er auf eine ehemalige Mitschülerin. Aus der einst dicken Julika, über die alle – auch Niko – lachten, ist eine schlanke, hübsche und betont selbstbewusste Frau geworden. Für den Abend lädt sie Niko zu einer Theateraufführung ein, bei der sie mitspielt. Spätere Romanze nicht ausgeschlossen. Aber auch keineswegs garantiert.

Theater, Film, die Berliner Kulturszene, die deutsche Geschichte – all das spiegelt sich in den seltsamen Bekanntschaften, die Niko in den folgenden Stunden noch macht, auf bizarre Weise wider. Das ist oft zum Brüllen komisch und nicht erst im nächsten, sondern im selben Moment zutiefst traurig. Diese eigentümliche heiter-melancholische Mischung, die ein wenig an Paul Thomas Andersons visuell und dramaturgisch ungleich üppigeren Magnolia erinnert, prägt die Atmosphäre. Jan Ole Gerster trifft diesen Ton so gut wie es im deutschen Kino schon seit langem niemandem mehr gelungen ist. Vielleicht sogar noch nie. Es ist nämlich ein sehr eigener, unverwechselbarer Ton. Und man kann nur hoffen, dass das Gersters Ton ist beziehungsweise seine Handschrift, und dass man davon in den nächsten Jahren noch mehr zu hören und sehen bekommen wird.

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Ganz ruhig, nie aufdringlich, schrill oder verkopft, ganz lässig und sehr nachdenklich, ein wenig albern und ironisch flaniert dieser aussergewöhnliche Streifen dahin und zieht einen dabei in seinen Bann. Sinnlich, emotional, lebendig, so gar nicht Berliner Schule und doch mit einem ähnlich scharfen Blick für zwischenmenschliche Abgründe. Nur, dass Gerster die Leere nicht ausstellt, sondern mit Trauer und Humor auffüllt. Wie kleine, in sich geschlossene Kurzfilme reihen sich die einzelnen Erlebnisse aneinander zu einer Collage eines Tages und einer Nacht in Berlin und im Leben von Niko Fischer. Nicht zufällig heisst der Beatles Song, aus dem der Filmtitel zitiert: «A Day in the Life». Es ist freilich kein gewöhnlicher Tag, keiner wie jeder andere. Oh Boy, oft mit schwebender, aber nie mit ruckelnder Handkamera fotografiert, hat mit naturalistischem Realismus wenig am Hut. Der Film schwelgt vielmehr in poetischer Symbolik, parodistisch gebrochenen Klischees und schicksalhaften Augenblicken. Auch wenn nicht jede Episode gleich gut gelingt, nicht jede Rolle ideal besetzt ist: im Kern ist Oh Boy nichts weniger als ein kleiner Geniestreich. Eine Glücksstunde des deutschen Kinos.

Ein Film, schwarzweiss bis ins Mark, aber voll weicher Kontraste, in schwermütige Jazzmusik getaucht und getragen von einem schmächtigen, grossartigen, ständig rauchenden Tom Schilling, der so ungläubig und so verloren dreinschaut, dass man ihn am liebsten tröstend in den Arm nehmen möchte, um dann schallend loszulachen. Heisst es doch schon bei den Beatles: «And though the news was rather sad / Well, I just had to laugh.» Obwohl, wenn man es recht bedenkt, gar so traurig ist Oh Boy am Schluss gar nicht. Ein klassisches Happy End à la Hollywood sollte man allerdings auch nicht erwarten.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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