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Pausenlos

Die Tendenz unserer Leistungsgesellschaft, zeitliche Freiräume immer mehr abzubauen, untersucht der Schweizer Filmemacher Dieter Gränicher in Pausenlos. Er porträtiert verschiedene Menschen und deren Umgang mit Zeit in einer Gesellschaft, die das Nichtstun verlernt hat.

Text: Johannes Binotto / 01. Jan. 2009

Der amerikanische Philosoph Marshall McLuhan hatte Anfang der sechziger Jahre neue Medien noch als Prothesen, als Verlängerung des eigenen Körpers verstanden: das Telefon als ausgebautes Ohr, die Maschinenschrift als verlängerte Hand. Unterdessen indes scheint mit der immer rasanter funktionierenden Technik der menschliche Benutzer selbst zur veralteten Prothese des Mediums verkümmert zu sein. Die Taktzahl, mit der ein Computer Daten verarbeitet, wird stetig erhöht – kein Wunder, mag man es nicht hinnehmen, dass der Mensch vor dem Bildschirm zu ähnlich exponentieller Produktivitätssteigerung nicht fähig ist. Stattdessen wird versucht, die Menschen dem neuen Tempo anzupassen: Ruhezeiten existieren in der globalen Marktwirtschaft nicht mehr, irgendwo wird immer gearbeitet, und so erwartet man denn auch von den Angestellten, dass sie auf ihren iPhones und Blackberries rund um die Uhr erreichbar sind. Die totale Ausnutzung der Zeit, die als Vorteil moderner Technologien gilt, hat sich längst zum Diktat gewandelt.

Die Tendenz unserer Leistungsgesellschaft, zeitliche Freiräume immer mehr abzubauen, untersucht der Schweizer Filmemacher Dieter Gränicher in Pausenlos. Er porträtiert verschiedene Menschen und deren Umgang mit Zeit in einer Gesellschaft, die das Nichtstun verlernt hat. Die Informatikerin Gabriela Bohler etwa, die von ihrem Mann per Mail erinnert werden muss, während der Arbeit auch mal eine Pause zu machen, oder der Architekt Timm Förderer, der den Umbau eines Ladenlokals am Computer zwar immer schneller planen kann, dessen Arbeiter aber nach wie vor gleich lang warten müssen, bis eine frisch vergipste Wand getrocknet ist.

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Gränicher nutzt die Mittel des Dokumentarfilms, um die – kaum zu bestreitende – These von der zunehmenden Pausenlosigkeit unserer Gesellschaft in ihren verschiedenen Aspekten zu beleuchten, und zeigt damit Mut. Mut nämlich, gerade mit dem angeblich um Objektivität bemühten Genre des Dokumentarfilms subjektiv Stellung zu beziehen. Andere Dokumentarfilme spielen objektive Zurückhaltung vor und behaupten, keine Thesen bebildern zu wollen, dabei ist schon die Auswahl eines Themas, die Platzierung der Kamera und nicht zuletzt das Arrangement des Gefilmten durch die Montage immer Ausdruck von Thesen und Meinungen. Gränicher nutzt im Gegensatz dazu den Dokumentarfilm zur Argumentation, als Essay.

Problematisch wird Gränichers Dokumentar-Essay denn auch nicht dort, wo er seine These zu vehement vertritt, sondern wo er sich zu wenig konsequent an sie hält, genauer: wo er sich selbst zu wenig Zeit nimmt. Die berechtigte Klage des im Film auftretenden Zeitforschers Karlheinz Geissler darüber, wie selbst die Freizeit zunehmend verwaltet und mit Konsummöglichkeiten angefüllt wird, ist zwar zu hören, in seiner Machart aber gehorcht der Film allzu oft selbst jenem Diktat der Pausenlosigkeit: Von Person zu Person, von Statement zu Statement hüpft der Film und weckt dabei den Verdacht, er habe vor genau dem Angst, was er rehabilitieren möchte: die Langeweile, das Warten, das Sich-Zeit-Lassen. In der Verknappung wirkt denn auch manches platt. Der Informatikerin und ihrem Partner bei den Ferien, beim Nichtstun zuzusehen, erweist sich als Falle, denn für die Kamera muss nun doch etwas getan, ja: gespielt werden. Man kuschelt sich im Strandkorb aneinander, man räkelt sich frühmorgens in den Laken und freut sich, dass man noch nicht aufstehen muss. Auch die Aufnahmen einer Tai-Chi-Gruppe in idyllischer Landschaft – ein Motiv, das nur einmal kurz auftaucht und dann im Rest des Films nicht mehr behandelt wird – bleibt Klischee, muss Klischee bleiben, weil sich die Kamera zu wenig Zeit dafür nimmt.

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Am eindrücklichsten aber wird der Film da, wo er abwartet, innehält. Auf dem Gesicht der Geigerin und Familienfrau Gabriele Meyer etwa, die sich für eine Erholungspause in den von Ordensschwestern geleiteten Sonnenhof in Gelterkinden zurückgezogen hat. In ihren Sprechpausen wird viel Komplexeres hörbar, als sich mit Worten sagen lässt. Erst der Film kann es zur Sprache bringen; doch nur, weil er wartet, die Pausen aushält.

Schlichtweg erschütternd wird der Film, wo er die Zeitverlorenheit einer Depressiven zeigt. Etwa die Langsamkeit, mit der Schminke aufgetragen wird, um wenigstens ein wenig die abgrundtiefe Erschöpfung in ihrem Gesicht zu kaschieren, wirkt wie ein stummer Schrei. Die Verheerungen, welche die Ökonomisiserung der Zeit in der Psyche anrichten kann und wie sich umgekehrt das Leiden der Psyche in einer überwältigenden und beängstigenden Zeitlosigkeit ausdrückt, wird in diesen Sequenzen sichtbar. Selbst die blosse Rückenansicht, wenn die Frau auf dem Gang eines Schlaflabors auf die Erlösung wartet, spricht deutlicher als jedes psychiatrische Gutachten. Ist es ein Zufall, dass Dieter Gränicher diese aufwühlenden Bilder ausgerechnet dort gelingen, wo der Film an den Vorläufer seelenschatten grenzt? Die lange Zeit, welche der Filmemacher bereits mit dem Thema der Depression verbracht hat, diese Zeit ist es, die nun in pausenlos zu den Momenten führt, die das Filmthema am Schlagendsten zeigen: wie die Zersetzung des Menschen mit der Zersetzung der Zeit Hand in Hand geht. In diesen Momenten wünscht man sich, der Regisseur hätte weniger, dieses wenige aber länger gezeigt und damit noch radikaler gewagt, im besten Sinne langweilig zu sein.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2009 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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