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Requiem 3

Requiem

Jedes Bild in Requiem ist von Grund auf Sache eines Standpunktes und einer Ethik, die eher darauf besteht, zu zeigen als aufzudrängen, zu verdichten als zu zerstreuen, wegzulassen denn zu vervielfältigen.

Text: Jean Perret / 01. Aug. 1992

Die Zahl ist niederschmetternd. Hundertzwanzig Millionen Männer, Frauen und Kinder waren Opfer der beiden Weltkriege. Davon zeugen, als stille Wächter dieser Toten, auch die Militärfriedhöfe von Europa. Hundertzwanzig Millionen Tote. Diese Zahl widersetzt sich jeder realistischen Darstellung – und sei die Vorstellungskraft auch noch so fruchtbar. Aber selbst der Versuch, Mass an diesen Toten zu nehmen: ist er heute angebracht?

Es ist hier nicht der Ort, Überlegungen über unsere Lebensweise anzustellen, die vom Konsum und einem inmensen Informationsfluss bestimmt wird, von einem System, aus dem viele Formen einer kollektiven Amnesie resultieren. Dennoch ist es kaum möglich, die aktuelle politische Situation zu ignorieren, die in Zentraleuropa die bekannten tödlichen, brudermörderischen und rassistischen Kriege nach sich zieht. Den Tod gibt es nur in der Trauer und im Gedächtnis. Andernfalls würde es sich dabei um ein punktuelles Ereignis, ein Verschwinden ohne offenkundige Wirkung handeln. Nun, da Europa im Zentrum des politischen Diskurses steht, da ganze Regionen gleichzeitig in apokalyptischen Konvulsionen zu versinken drohen, müsste das Gewicht der von Millionen von Opfern stigmatisierten Geschichte im kollektiven Gedächtnis des Kontinents spürbar werden. Kann man sich aber – heute bereits – die sich mit diesen «alltäglichen» Toten tagtäglich vergrössernden Friedhöfe vorstellen?

Angesichts dieser menschlichen Tragödie wird klar, dass man beim Versuch, das Nachdenken darüber selbst zur Darstellung zu bringen, Abstand halten und still agieren muss. Das ist eine Herausforderung in dieser lärmigen und geschwätzigen Zeit. Um einen Film des Gedenkens an die Toten zu machen, muss man bewusst gegen die herrschende Strömung des effekthascherischen und lauthalsen Kinos angehen, darf keinesfalls willensschwach sein, sondern muss mit der Fähigkeit zu Geduld und innerer Heiterkeit ausgestattet sein, die allein geeignet sind, die Domäne der Wiedererinnerung zu erfassen. Reni Mertens und Walter Marti konnten, als sie sich entschieden, einen Film mit dem Titel Requiem zu wagen, der als «lyrisches Gedicht in Bildern und ohne Worte» den «Millionen von Soldaten aller Nationen gestorben in diesem Jahrhundert auf den Schlachtfeldern Europas» gewidmet ist, auf ihre reiche Erfahrung von mehr als fünfzehn Filmen als Filmgestalter zurückgreifen. Dank diesem Wagnis und dank dieser Erfahrung liegt heute ein Film vor, ein wahrer Kinofilm, der bei den Anfängen des Kinos anknüpft.

Requiem ist ein stummer Film mit Musik ...

Schon die ersten Bilder beziehen ihre Kraft aus unserer weit zurückreichenden Kultur. Überreste eines römischen Tempels beherrschen das Meer. Die Bilder skizzieren den stummen Dialog zwischen den alten, von Menschenhand geformten Steinen und der unendlichen Masse des Wassers. Bild für Bild in einem Dialog der Stille. Die Arbeit des Films besteht darin, die zu Standbildern gemachten Zeugen, die hieratischen Symbole, die massiven Monumente der Toten des Feldes der Ehre aufzuspüren und zu zeigen. Bereits in den ersten Bildern aus Sizilien wird durch die Begegnung von versteinerten Gesichtern mit ihren offenen Mündern eine Dramaturgie entwickelt. Stumm wie der Stein, in den sie gemeisselt wurden, sprechen sie den unerdenklichen Schmerz des vergewaltigten und mit seinem frühzeitigen Tod konfrontierten Menschen aus. Von Anfang an ist der «Weg der Bilder» (ein Ausdruck von Walter Marti) zwingend, die ganz nah auf die Objekte kadrierten Bilder und der Rhythmus ihrer Abfolge drängen sich auf. Jedes Bild in Requiem ist von Grund auf Sache eines Standpunktes und einer Ethik, die eher darauf besteht, zu zeigen als aufzudrängen, zu verdichten als zu zerstreuen, wegzulassen denn zu vervielfältigen. Jede Einstellung in diesem Film steht in sich allein und bleibt so lange auf der Leinwand, bis sich ihre Bedeutung erschlossen hat. Jede Einstellung ist aber auch in Hinsicht auf die nächstfolgende komponiert, wie sie selbstverständlich schon auf die vorangehende Bezug nahm. Daraus entwickelt sich die spezifische Erzählung des Films, der seine eigenen Regeln der Prosodie kreiert, in einem Rhythmus, der nie den gefilmten Orten Gewalt antut. So entfaltet Requiem seine Reise vom Westen nach dem Osten und vom Süden nach dem Norden von Europa und erforscht das aus Kreuzen und Monumenten errichtete Gedächtnis der Trauer.

Die Bilder sind stumm, das ist die unabdingbare Bedingung für ihre Entfaltung. Wir werden, für die Länge des Films, in Gesellschaft dieser ungezählten, von vielfältigen Kulturen stammenden Todes-Symbole bleiben, und mit ihnen allein. Es scheint zunächst widersinnig, wird aber zur Herausforderung: mit einer Ausnahme – einer flüchtigen, sachdienlichen – kommt kein einziges menschliches Wesen vor! Mit Nah-Einstellungen, in Grossaufnahmen, wie mit Totalen erfanden die Filmemacher ihre Bilder in Abhängigkeit der auf einer Rundreise von 20 000 Kilometern entdeckten Orte. Feste Einstellungen im richtigen Rhythmus, damit der Blick sich ereignen kann, aber auch Schwenks und Aufnahmen mit geschulterter Kamera, bewegt im Schritt der Landvermesser der Sterbeterritorien. Keine Systematik ist auf diese Erkundungen angewandt, im Gegenteil. Die Freiheit organisiert die notwendigen Bilder nach dem Gefühl und der Intuition des Augenblicks, immer aber auch in Abhängigkeit des entstehenden Films, von dem die Filmemacher bereits eine Vorstellung haben.

Film wie Fotografie haben Anteil am Tod. Jede Aufnahme produziert Mumien. Jedes Bild tötet, indem es von den Lebenden ein gespensterhaftes Abbild mit fälschlicherweise realistischen Akzenten entwirft. Von diesem allgemeinen Standpunkt aus ist Requiem gewissermassen ein «Film im Quadrat». Er versucht, das Porträt von hundertzwanzig Millionen toter Menschen zu zeichnen, indem er nur die abstrakten Spuren – vom bombastischen Mausoleum bis zu den schief eingepflanzten Holzkreuzen – zeigt. Aber man stelle sich ja keinen morbiden Film vor! Denn einen Film wie Requiem vorzulegen, heisst, Vorschläge für einen Dialog zwischen den «Toten des Kinos» und den «Lebenden der Welt», zwischen der filmischen Erzählung und dem kollektiven Bewusstsein der aktuellen Gesellschaften zu machen. Ein Kinofilm ist Fährmann zwischen der Welt der Toten und der der Lebenden, zwischen den Erinnerungen aus der Vergangenheit und den Träumen, die die Zukunft formen. Reni Mertens und Walter Marti schenken uns einen subtilen Film, der sich in seinem Verlauf an der kulturellen Geschichte der verschiedenen militärischen Totenkulte in Europa bereichert. Das Desaster der Kriege nimmt gleichzeitig unterschiedlichen und identischen Gehalt an, je nachdem ob man sich auf dem Monte Cassino, auf dem sowjetischen Friedhof von Verdun, beim India Memorial oder im Konzentrationslager Sachsenhausen befindet. Requiem, ein stummer Film mit Musik! Unterzeichnet ist er nicht nur von Marti und Mertens, sondern auch vom Komponisten Leon Francioli. Das hat seine Richtigkeit, denn die Musik bildet einen integrierten Bestandteil der Bedeutungsstruktur des Werks. Die musikalischen Sequenzen wurden nach den Angaben der Filmemacher komponiert. Francioli hat einen Teil der Partitur entworfen, ohne jemals die Bilder gesehen zu haben. Die Begegnung zwischen Bild und Musik – auf der Höhe der eingegangenen Risiken – ist aufregend, spannend. Die Musik kommentiert nicht die Bilder, sie ist ihr Echo, der klingende Atem, die erste Erkundung, der intime Gesprächspartner. Um so mehr als die Partitur evolutive Themen entwickelt, die sich gleichzeitig auf Vorbilder – militärische, religiöse, folkloristische, klassische, jazzige Musik – beziehen und ein eigenes, autonomes Universum aufbauen, das seine Grundlagen nur im Blick auf die Bilder findet. Es gibt in dieser Musik Schmerz und Hoffnung, Mitleid und Ironie, Rituale, die sich aus Trübsal und Spiel erheben. Bewundernswert sind im besonderen die Übergänge von einem Register der Sensibilität zum andern. Auch in dieser Hinsicht ist Requiem ein Werk des Überganges zwischen Gedenken an die Toten und den Lebenden, zwischen Kulturen und Regionen, zwischen sensiblen Annäherungen und ausgereiften Überlegungen. Die Musik thematisiert die von den Bildern entwickelten Gegenstände, die wiederum ihre Facetten im Echo der entwickelten Töne entfalten. Requiem ist ein Film von heute, dessen Blick nicht moralisierend ist, sondern reich an humanistischer Moral, die der Gleichgültigkeit ein Ende setzt will. Den «Tod des Jahrhunderts» in einem philosophischen und kontemplativen Spaziergang durch seine Hinterlassenschaft zu sehen und zu hören, das ist die Herausforderung dieses Requiems, im ganzen heiter, lyrisch, sicher, aber beherrscht und luzid. Unerbittlich, lebt der Film von einem zwiefach ausgearbeiteten und provozierenden Streben. Er erzwingt die Stille und erweckt durch die Verflechtung von Bildern und Musik die hartnäckige Stimme eines durch das Vergessen beschädigten Gedächtnisses. Hundertzwanzig Millionen Tote!

Übersetzung: Josef Stutzer

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/1992 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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