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Thelma

Pierre-Alain Meier hat sich bisher vor allem als initiativer und risikofreudiger Produzent einen Namen gemacht, zuvorderst bei den (vietnamesischen) Filmen von Rithy Pan. Mit Thelma inszeniert der Jurassier jetzt ein Drehbuch, das kompliziert und raffiniert genug ist, um seine Regie-Künste deutlich zu überfordern.

Text: Pierre Lachat / 01. Mai 2002

Seit kurzem lässt sich in die amerikanischen Pässe das Geschlecht des Inhabers, ausser als Male oder Female (wie bisher), neu auch als other eintragen. Die einst (scheinbar) fest gefügten Genres gliedern sich um zu weiteren Kategorien. Bei diesem Übergang von einer statischen zu einer dynamischen Ordnung der Geschlechter lassen sich für den Einzelnen dramatische Konflikte schlecht vermeiden. Bloss wird die Titelheldin von Thelma nicht etwa von einer Schauspielperson markiert, die aus der einen oder aus der andern von den beiden traditionellen Zugehörigkeiten stammte. Sondern Thelma ist von einem Realzwitter dargestellt, das heisst direkt dem Alltag entnommen.

Pascale Ourbih ist eine Frau mit Penis, da braucht nichts Anatomisches mehr eigens vorgekehrt zu werden und vermutlich auch nichts Seelisches. Sie agiert als ihr eigenes Ich, sofern nicht von mehr als einem solchen in derselben Person zu reden wäre: eine Abenteurerin zwischen den maskulin und den feminin formatierten Welten, von denen sie je das Beste erhofft und öfter je das Übelste bekommt. Sie hat die ineinander versetzten Eigenarten von Mann und Frau gleichzeitig darzustellen und sicher schon hinter der Kamera alle Mühe, der eigenen mehrfach gelagerten Rolle zu genügen. Unter diesen schwierigen Umständen darf sie sich getrost als eine noch etwas unfertige, suchende Mimin erweisen.

Mit der Lüge auf du und du

Fraglos gelingt ihr und dem Regisseur Pierre-Alain Meier das, was unerlässlich ist, damit die Fabel überhaupt erst in Gang kommen kann. Mit der Lüge naheliegenderweise auf du und du, hat Thelma glaubhaft zu machen, dass sie imstand ist, ihr Gegenüber, einen verkrachten Boxer, tagelang über ihre tatsächliche körperliche Beschaffenheit hinweg zu täuschen. Praktikabel wird die Irreführung, indem dabei auch das Publikum gleich mit hinters Licht geführt wird.

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Ein ausgesuchtes Prachtsexemplar von Hetero namens Laurent Schilling (deutlich geübter in seinem Beruf) gibt Vincent Fleury, den männlichen Protagonisten. Unter dem sprunghaften, verwirrenden Einfluss Thelmas geraten seine Klischees, was für ein Verhalten zu welchem Geschlecht passt, ins Wanken, angefangen bei seinem eigenen.

Zwischen dem nördlichen Ufer des Genfersees und der kretischen Südküste kommen, vorbei an den Trümmern und Zeugen vergangener Lebenszeit, zwei Biographien über Kreuz, die in einem Punkt auch ihre Gemeinsamkeit haben: sowohl Thelma wie Vincent laufen von den Konflikten weg. Sie ist einen Schritt weiter gegangen und vor ihrer ursprünglichen Bestimmung geflohen, die darin bestand, das Leben eines Mannes (und Vaters) führen zu müssen. Er ergreift die Gelegenheit zum Abhauen, die sie ihm bietet, nur zu gern.

Unentschiedene Hand

Pierre-Alain Meier hat sich bisher vor allem als initiativer und risikofreudiger Produzent einen Namen gemacht, zuvorderst bei den (vietnamesischen) Filmen von Rithy Pan. Mit Thelma inszeniert der Jurassier jetzt ein Drehbuch, das kompliziert und raffiniert genug ist, um seine Regie-Künste deutlich zu überfordern.

Wohl entfaltet sich die beziehungsreiche Geschichte vom Boxer und vom Zwitter mit bestechender Logik, und sie überzeugt durch die Charakterisierung der Figuren und die Feinfühligkeit, mit der die heikeln Intim-Szenen realisiert sind. Leider lahmen Schnitt und Rhythmus, und die Führung der Schauspieler verrät eine allzu vorsichtige, etwas unentschiedene Hand. Immer wieder gerät so eine Erzählung, die auf steten, zügigen Fluss angewiesen wäre, ins Stocken. Trotzdem überwiegt die Originalität des Themas und macht Thelma, auch wenn er nur in Teilen reüssiert, zu einem beachtlichen Versuch.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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