Filmbulletin Print Logo
Happy winter anna dei miracoli

Die wieder­entdeckte Welt

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Neorealismo das Kino revolutioniert. In den letzten Jahrzehnten ist es aber stiller geworden um das italienische Kino, das zunehmend in Provinzialität abrutschte. Das aktuelle Filmschaffen gibt indes Anlass zu neuen Hoffnungen und hält – nicht zuletzt im Bereich des Dokumentarfilms – viele Ent­deckungen bereit. Versuch eines Überblicks.

Text: Fabian Tietke / 26. Sep. 2018

… Vorbei ist jene Selbstprovinzialisierung, die seit dem Ende der Achtzigerjahre das italienische Kino erfasst hatte. Zwischen all den stumpfen Komödien, schlecht konzipierten Dramen und den Filmen, die man nur mit einem fast schon tagesaktuellen Wissen um die Wirren italienischer Politskandale verstehen konnte, ragen zu diesem Zeitpunkt einzig die Filme von Nanni Moretti hervor. Er konnte ein internationales Publikum erreichen, zog sich jedoch mit Introspektion ganz ins Persönliche zurück.

In den aktuellen Filmen hingegen ist der Blick wieder weiter. Die Gesellschaft ist zurückgekehrt: Alice Rohrwacher erzählt in [art:1456] die Ge­schichte eines Bauernjungen inmitten einer Gruppe Landarbeiter, der sich von diesen in erhabener Einfalt absetzt. Rohrwachers «Naturalismus mit [...] magischen Momenten», wie dies Hannah Pilarczyk nannte, greift dabei die grosse sozialrealistische Tradition des italienischen Nachkriegskinos auf und haucht ihr auf unerwartete Weise neues Leben ein. Jonas Carpignano realisierte nach Mediterranea mit [art:1232] einen bemerkenswerten zweiten Langfilm. Dieser kreist um den vierzehnjährigen Pio, der gemeinsam mit seinem Bruder Cosimo in einer Roma-Gemeinschaft lebt. Auch in der Geschichte der Beziehung zwischen den beiden jungen Männern in Luca Guadagninos [art:1259] ist die Gesellschaft präsent – nicht zuletzt in Form von Erwartungen, denen man entsprechen muss oder sich ihnen widersetzt.

Anime nere 1005 1000183437

Das italienische Kino der letzten zehn Jahre hat damit die Fähigkeit wiederentdeckt, Geschichten zu erzählen, die auch für das Ausland von Interesse sind. Folgerichtig entstanden viele der oben genannten Fil­me in Koproduktion mit anderen europäischen Ländern, was wiederum die Vermarktung erleichterte. Zugleich haben sich nicht nur im Fall von Gianfranco Rosi (der in den USA Film studierte), Jonas Carpignano (der in New York geboren ist) und Luca Guadagnino (der bei [art:1259] für den ursprünglich vorgesehenen James Ivory einsprang) die Verbindungen zwischen der italienischen und der US-amerikanischen Filmindustrie wieder intensiviert. Fast wundert es, dass gerade das italienische Kino nach seinem allmählichen Abgang von der internationalen Bühne so lange gebraucht hat, um die Erfolgsformel der europäischen und – wann immer möglich – trans­atlantischen Koproduktionen wiederzuentdecken, die ihm bereits in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ein goldenes Zeitalter beschert hatte…

Den ganzen Essay können Sie in der Printausgabe von Filmbulletin lesen.
Ausgabe 6/2018 bestellen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Essay

13. Dez. 2016

Bilder einer besseren Welt

Vor 500 Jahren erschien mit Thomas Morus’ «Utopia» die erste literarische Utopie. Seither haben Utopisten auf der ganzen Welt unzählige Entwürfe alternativer Gesellschaftsordnungen vorgelegt. Wie aber sieht es damit im Film aus?

Ukranie

18. Juni 2020

Widerstand gegen die Zerstörung sowjetischer Kulturpaläste

Umbrüche politischer Systeme beeinflussen nicht zuletzt auch deren Kinos: In den vergangenen dreissig Jahren wurde Kiew Zeuge der Verwahrlosung und Zerstörung seiner schönsten historischen Stätten. Für Filmbulletin beschreibt die Aktivist:innengruppe Occupy Kyiv Cinemas (OKC) den Kampf gegen den Verlust kommunaler Kinos.

Essay

02. Nov. 2015

Es war einmal: Einfuhrkontingente für Spielfilme

Seit den dreissiger Jahren bewegte sich die Debatte über «Auslandsunabhängigkeit» im Schnittpunkt von Politik, Wirtschaft und Kultur. Die Einfuhrkontingentierung für Spielfilme sollte die Un­abhängigkeit gewährleisten. 50 Jahre später wurde dieses Regime abgelöst durch das Ziel der «Angebotsvielfalt» und durch Fördermassnahmen. Ein Rückblick auf eine Entwicklung, die kaum abgeschlossen sein dürfte.