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Am ende der nacht 4

«Er spricht gut über sein Personal. Insgeheim stöhnt er.»

Ich erzählte im Sommer 1990 einer Freundin die im Kopf zurechtgelegte Geschichte zum Film Am Ende der Nacht. Wir zeichneten dieses Gespräch auf.

Text: Christoph Schaub / 01. Aug. 1992

Ich erzählte im Sommer 1990 einer Freundin die im Kopf zurechtgelegte Geschichte zum Film Am Ende der Nacht. Sie stellte dann spontan mündlich Fragen zu den beiden Hauptfiguren, die ich mündlich beantwortete. Wir zeichneten dieses Gespräch auf. Im Anschluss machte ich eine Transkription. Für Filmbulletin wurde der Text zusätzlich gekürzt. Der Verlauf, der durch die Gesprächssituation und die Neugier der Fragestellerin bestimmt ist, wurde beibehalten.

Wie haben sich Robert und Edith kennengelernt?

An einem Open-Air-Konzert. Sie war eigentlich eher zufällig dort. Freundinnen haben sie mitgenommen. Ihr hat's an solchen Anlässen zuviele Leute. Robert ging hingegen oft an solche Veranstaltungen. Sie haben eine Nacht in Roberts Zelt verbracht. Sie verstanden sich gut, ohne viel zu reden. Es war anfänglich nicht feurige Liebe. Sie waren eher zwei «Freunde». Robert, der einige Jahre älter ist, hat ihr Eindruck gemacht. Er hat viele Leute gekannt. Er war weniger ruppig als die Männer, die sie kannte. Sie hat das erste Mal in ihrem Leben zwei-, dreitägige Reisen alleine mit Robert unternommen. Zum Beispiel nach Amsterdam und wieder zurück. Robert sagte immer, Sex sei nicht das wichtigste. Dies hat ihn unterschieden von den anderen Männern. Diese redeten immer nur von Sex, was sie abstiess.

Sie waren nur solange charmant und aufmerksam, bis sie mit ihr im Bett waren. Danach erlosch jeweils das ganze Interesse. Robert drängte irgendwie nicht darauf. Er nahm auf sie Rücksicht.

Wechselten die beiden nach der Heirat die Wohngemeinde?

Vorerst nicht. Die ersten drei Ehejahre verbrachten sie noch in der Stadt. Robert arbeitete dort in einer Filiale der gleichen Ladenkette wie später im Dorf. Das Angebot des Filialleiterjobs in 0. bewog die beiden, in dieses Dorf zu ziehen.

Entschied Robert über den Job als Filialleiter, ohne Edith zu konsultieren, oder diskutierten sie seine Berufswünsche und Ziele gemeinsam?

Es war eigentlich Robert, der eher zögerte. Er wolle nicht so viel arbeiten.

Edith freute sich, dass Robert einen verantwortungsvollen Job kriegte. Sie freute sich auf das höhere Salär. So war für Robert relativ schnell und ohne Diskussion klar, dass er dies machen würde. Er rechnete sich auch selber die Vorteile aus: mehr Lohn, auf dem Land leben, was er ohnehin vorzog und für die Kinder besser ist. Die Möglichkeit, ein eigenes Haus zu übernehmen. Die Lebensmittelkette hat ihm das angeboten.

An den Weiterbildungskursen hat er eigentlich teilgenommen, damit er von der täglich gleichen Arbeit wegkommt, damit er etwas Abwechslung hat, nicht unbedingt wegen des Berufsziels, eine Filiale zu übernehmen.

Was arbeitete Robert, als er Edith kennenlernte?

Robert jobte zur Zeit, als sie sich kennenlernten, als Lastwagenfahrer. Er genoss es, so ins Ausland zu kommen. Eine Zeit lang war er Roadie für eine Konzertagentur. Er beschloss nach der Heirat und der Geburt des Kindes, auf seinen Beruf als Verkäufer zurückzugehen. Er meinte, er wolle regelmässig für Frau und Kind zu Hause sein und einen regelmässigen und anständigen Lohn haben.

War es Ediths Wunsch, nach der Hochzeit nicht mehr arbeiten zu müssen, oder entsprang diese Arbeitsteilung Roberts Vorstellung?

Beides. Ihr hat die Lehre gestunken, so war sie ganz froh, dass sie nicht arbeiten musste. Sie dachte damals, es sei nur für eine gewisse Dauer.

Robert, der jetzt einen festen Job hat, fand auch, er könne gut für sie schauen. Er wollte, dass sie und das Kind es gut haben.

In 0. erübrigte sich automatisch die Diskussion um ihre Berufsausübung, da es in der Nähe keine chemischen Fabriken gibt, wo sie ihren gelernten Beruf als Chemielaborantin hätte ausüben können. Zusätzlich hat sich ihr Beruf schnell weiterentwickelt. Sie hätte nach acht Jahren Schwierigkeiten wieder einzusteigen.

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Was ist der familiäre Hintergrund von Robert?

Arbeiterschicht. Der Vater war Magaziner, hatte vier Kinder: drei Buben und ein Mädchen. Robert ist der Jüngste von den vieren. Er ist ein Nachzügler, es sind acht Jahre Abstand zum zweitjüngsten Kind. So blieb Robert immer etwas abseits.

Der Vater war wenig zu Hause. Die Mutter ist Hausfrau. Sie war streng, etwas hart, sie machte alles, damit ihre Kinder «rechte» Menschen würden. Je älter der Vater wurde, desto mehr hat er gesoffen. Die Eltern führten eine schlechte Ehe. Die beiden hatten nichts – oder fast nichts – mehr miteinander zu tun. Heute ist der Vater ein Pflegefall. Senil und bettlägerig. Die Mutter schaut für ihn.

Was ist der familiäre Hintergrund von Edith?

Ediths Vater war Aussenvertreter für eine grosse Farbenfabrik. Er ist viel unterwegs gewesen, meistens mit dem Auto. Ihre Mutter war Hausfrau, bis zur Scheidung. Sie wurden geschieden, als Edith neun Jahre alt war. Edith hat sehr unter der Scheidung gelitten. Sie pflegt mit ihrem Vater seit der Scheidung fast keinen Kontakt mehr. Sie stammen aus einem Aussenquartier einer grössern Stadt. Nach der Scheidung arbeitete ihre Mutter als Büroaushilfe. Edith ist ein Einzelkind. Da Edith keine Geschwister hatte und die Mutter arbeitete, hat sie gelernt, alleine zu sein.

Wie war Robert als Schüler?

Er wollte immer ein guter, anständiger Schüler sein. Er war aber nicht sehr schulintelligent. Seine Zerstreutheit und sein Träumen haben ihm immer Schwierigkeiten gemacht. Wann, wie und weshalb setzte er sich von seiner Familie ab? Nach dem Lehrabschluss. Er war ein bisschen ein Freak. Mehr deshalb, weil es zu dieser Zeit «in» war, als dass er sich sehr mit diesen Inhalten auseinandergesetzt hätte.

Open-Airs, Zelten, auch ein wenig Haschisch, Pop und Rock. Joints hat er eher aus Gruppendruck geraucht. Den Zustand des «High-Seins» hatte er nicht sehr gemocht. Trampen mit Autostop. Nach Griechenland ging er in den siebziger Jahren. Um nach Indien zu gehen, haben ihm der Mut und das Geld gefehlt. Ganz abgestürzt ist er nie, auch wenn's ihm manchmal in der Lehre schon sehr gestunken hat. Er dachte sich, eine Ausbildung muss man haben. Einmal war er trotzdem fünf Tage von der Arbeit weggeblieben. Nach einem Open-Air ging er mit Freunden wild campieren. Sehr schnell wollte Robert von zu Hause wegziehen. Es war ihm zu elend: Der Vater, der trinkt. Die Mutter alleine. Keine Geschwister mehr zu Hause. Die Fürsorge der Mutter war ihm auch zu aufdringlich. Die Mutter wollte ihn erst nach dem Lehrabschluss gehen lassen.

Was lernte Edith?

Sie war kurz vor ihrem Lehrabschluss als Laborantin, als sie von Robert schwanger wurde. Arbeitete nachher nie in ihrem Beruf. Sie hatte immer Freude am Nähen. Sie pflegte dieses Interesse mit grosser Liebe. Ist Robert der erste Mann von Edith? Nein, es gab vorher einige Jugend-Liebschaften. Keine war so heiss, dass sie länger als einige Monate gegangen wäre.

Wie kam für Robert der Sex? Mit wem?

Er war nie sehr besessen vom Sex. Er hat schon mit Mädchen geschlafen, mehr eigentlich, weil es offensichtlich «dazugehörte». Die Mädchen wollten das ja auch immer. Es war ihm aber immer wohler mit den Kollegen. Er hatte einen fünf Jahre älteren Freund. Dieser hat sich sehr um ihn bemüht. Er war für Robert der wichtigste Bezugspunkt. Eine Art Vaterfigur. Einmal waren beide sehr betrunken, da verführte dieser Mann Robert. Der ältere Freund hat sich nachher über seinen «Ausrutscher» so geschämt, dass er sich von Robert trennte. Robert hat das nicht verstanden, er fand es «irgendwie» nicht so schlimm, auch wenn für ihn das Erlebnis «fremd» war. Robert war einer, der mit den Mädchen langdauernde Geschichten suchte.

Robert war immer ein Einzelgänger, ohne dass er es gewollt hätte. Er fühlte sich immer etwas überfordert von der Kompliziertheit der Beziehungen.

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Wollte er kurz nach zwanzig eine Familie gründen?

Irgendwann schon. Aber eigentlich später. Mit dreissig.

Schaute er auf der Strasse Frauen nach?

Manchmal. Es kann ihn faszinieren – ob Mann oder Frau, und dann muss er schauen.

In welchem Monat war Edith schwanger, als die beiden heirateten – war die Heirat geplant oder ist es eine Mussehe?

Im fünften Monat. Sie wollten eigentlich nicht oder noch nicht heiraten. Fanden es aber besser wegen der Eltern, wegen des Kindes. Beide freuten sich jedoch sehr am Tag der Eheschliessung auf ihr gemeinsames Leben.

Entsprach es der Vorstellung von Edith, eine Familie zu gründen?

Ja. Sie hat keine Mühe mit diesen traditionellen Formen. Sie findet die Aufteilung sinnvoll. Sie hat keine Minderwertigkeitskomplexe. Sie hat diese Sicherheit auch gern. Würde aber – im Gegensatz zu Robert – die Familie nie romantisieren.

Wie wählen die beiden Pate und Patin für ihr Kind?

Sie machen das traditionell. Robert ist für den Götti zuständig, Edith für die Gotte. Sein Bruder ist Pate. Eine Cousine von Edith Patin.

Was hat sich in der Sexualität während der Ehe mit Edith geändert?

Sie ist fast eingeschlafen. Manchmal machen sie Liebe. Etwas mechanisch und routiniert. Nicht sehr variantenreich. Sex war für beide nie im Zentrum. Sie sind nicht mehr neugierig aufeinander.

Geht Robert zu Nutten?

Nein.

Bereitet Edith Robert das Frühstück zu?

Ja. Dabei trägt sie den Morgenrock.

Gibt sie ihm Abschieds–, Begrüssungsküsse?

Manchmal.

Schaut sie ihm hinter dem Vorhang nach, wenn er weggeht?

Ja, manchmal.

Interessiert sie sich für das Treiben ausserhalb des Hauses?

Nicht sehr. Sie ist menschenscheu. Hat diese oberflächlichen Gespräche zwischen Hausfrauen nicht gern. Sie denkt, die können nur immer über andere reden. Sie hasst Tratsch.

Spricht sie mit dem Pöstler?

Ja. Aber eigentlich eher, weil er eine sympathische Plaudertasche ist.

Erhält sie Telefonanrufe von Robert – oder von anderen?

Von Robert nicht. Sonst auch eher selten.

Hört sie Radio?

Ja. Der Radio ist meistens auf Riesellautstärke eingeschaltet.

Grüsst sie die Nachbarinnen?

Kurze, formal-höfliche Begrüssungen. Manchmal verzögert sie den Gang auf der Strasse um einige Momente, um eine Begegnung mit einer Nachbarin zu vermeiden.

Welche Art von Bücher liest Edith?

Am liebsten Biographien von bekannten Personen. Epische, dicke Romane – Lebensgeschichten. Die Geschichten müssen ein gutes Ende haben.

Was will Robert über Ediths Lektüre wissen?

Nichts. Er liest den Klappentext, das reicht ihm. Er hat nie gerne gelesen. Er bewundert sie ein wenig, dass sie mit soviel Ausdauer so dicke Bücher liest. Manchmal ist er ein wenig eifersüchtig auf die Bücher.

Hat Robert ein schlechtes Gewissen im Leben?

Oft. Er könnte keiner Maus was tun, hat gleichzeitig immer das Gefühl, er mache Fehler.

Benimmt sich Robert wie ein Hochstapler?

Ja. Aber ohne es richtig zu merken. Er will sich und alles immer gut darstellen.

Wie redet Robert über seine Schlafstörungen?

Das sei nicht schlimm. Das gehe wieder vorbei. Er versucht, sie zu verdrängen. Eigentlich hat er die einsamen Stunden in der Nacht gerne. Da kann er ungestört sich selber sein.

Spricht er von Geld?

Nicht viel.

Schmiedet Robert Pläne für sich und Edith, die Familie?

Es ist ihm vergangen, da er sich nur noch kurzfristig das Leben zurecht legen kann. Es gibt einen alten Plan: Wenn das Kind gross ist, will er mit Edith ein halbes Jahr in der Karibik segeln.

Wie spricht Robert über sein Personal?

Er spricht gut über sein Personal. Insgeheim stöhnt er.

Wo sitzt Edith am liebsten?

Auf dem Sofa in der Stube oder am Nähtisch.

Hat sie Körperkontakt zu Beni?

Vor dem Einschlafen ist sie oft sehr zärtlich.

Gehen sie gemeinsam oder getrennt ins Bett? Mit oder ohne Pyjama?

Getrennt. Mit.

Kann Edith gut einschlafen?

Ja.

Wie sind Roberts Bewegungen?

Weich, federnd, es sind manchmal fast feminine Bewegungen.

Schaut er oft in den Spiegel ?

Ja. Er kontrolliert sein Aussehen.

Liest Robert Zeitungen?

Boulevardzeitungen und das Lokalblatt.

Interessiert ihn Politik?

Nein.

Sitzt er oder liegt er mehr in der Stube?

Er sitzt. Wenn er alleine ist, fläzt er sich der Länge nach hin. Er gibt die Haltung auf.

Bringt er seinem Buben Geschenke?

Er freut sich, ihm Spielsachen nach Hause zu bringen. So drückt er sein Engagement und seine Liebe zu ihm aus. Beni hat sehr viele Spielzeuge.

Wie wirkt Robert in unbeobachteten Momenten?

Traurig, melancholisch, in sich versunken. Fahrig.

Sehnt sich Robert nach der Jugend?

Ja.

Isst Robert gerne?

Nicht speziell.

Trägt er Schmuck?

Nur den Ehering.

Trägt Edith Schmuck?

Sie hat gerne Schmuck. Grosse Ohrringe, breite Armreifen – Klunker. Sie hätte gerne teuren Schmuck.

Wie oft geht sie zum Coiffeur?

Ein Mal pro Monat.

Interessiert sie sich für Klatsch-Zeitungen?

Ja, sie liest diese Geschichten gerne

. Sie hat allerdings eine gewisse Distanz dazu.

Welches ist ihre liebste Jahreszeit?

Frühjahr.

Was ist ihr grösstes Trauma?

Die Trennung ihrer Eltern, als sie neun Jahre alt war.

Am ende der nacht 2

Was wollte Edith werden, als sie ein kleines Mädchen war?

Schneiderin und Buchhändlerin. Schneiderin hat die Mutter ihr ausgeredet. Dieser Beruf hätte zu wenig Zukunftsaussichten.

Wie reagiert Robert auf Ediths frühes Schlafengehen?

Er ist froh, wenn er alleine schalten und walten kann, wie er will.

Erträgt er Stille?

Ja. Sie ist ihm lieber als das Gegenteil.

Reklamiert er je über irgendwas?

Ganz selten. Wenn er das Gefühl hat, es sei ihm wirklich unrecht geschehen, kann er sehr stark ausrasten. Er hat dann etwas Gewalttätiges, was in einem völligen Kontrast zu seiner gutmütigen, lieben Ausstrahlung steht.

Lobt er oft?

Ja. Er will den Leuten schmeicheln, damit sie ihn nicht ablehnen.

Möchte er Ediths Äusseres beeinflussen?

Nein. Er freut sich, wenn sie sich schön macht.

Schaut er sich Reklame an?

Ja. Schweifen seine Blicke oder ruhen sie?

Unter Leuten schweifen sie nervös. Alleine ruhen sie.

Sitzt er oft als letzter alleine am Tisch?

Ja, Edith räumt den Tisch ab. Er sinkt in sich ab.

Gab es Ladendiebstähle?

Ja. Die Täter taten ihm leid. Am liebsten hätte er sie nicht angezeigt. – Er hat oft auch Schüler mit mahnenden Worten weggeschickt, ohne Anzeige zu erstatten.

Was war Roberts Traumberuf als Knabe?

Zauberer.

Hat er farbige oder schwarzweisse Träume?

Farbige.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/1992 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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