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CH-Film: Ansichten und Aussichten

16 Antworten auf die Umfrage des Filmbulletins zur Situation des Schweizer Films.

Text: diverse / 01. Juli 1995

Umfrage

Die folgenden drei Fragen, bewusst so uneinschränkend wie möglich gewählt, wurden an über 200 Personen in der Schweiz verschickt, die sich im engeren oder weiteren Umfeld mit Film befassen. Absichtlich übersprungen haben wir die Mitarbeiter der Zeitschrift. Die Begrenzung auf 200 Anfragen hatte betriebstechnische Gründe, und wir hoffen gerne, dass sich niemand übergangen fühlt. Die Frist, in der die Antworten bei uns vorliegen sollten, wurde absichtlich sehr kurz bemessen, denn wir wollten möglichst spontane Reaktionen. Sämtliche Zuschriften werden unbearbeitet und ungekürzt abgedruckt.

Unsere Fragen:

1. Was bedeutet Ihnen der Alte beziehungsweise Neue Schweizer Film? Erfahrungsfeld? Inspirationsquelle? Hassobjekt? Wurzel? Höhe- und Tiefpunkte?

2. Wie charakterisieren Sie die Situation des aktuellen Schweizer Films? Nicht nur filmpolitisch, auch inhaltlich und formal?

3. Wie beurteilen Sie die Perspektive des Schweizer Films? In welche Richtung wird oder muss er sich entwickeln? Thematisch, finanziell, ästhetisch? Utopie oder Jammertal? «Vier im Jeep» oder «Reisende( r) Krieger«?

Vier im jeep

(Bild: Vier im Jeep)

Fredi M. Murer

Einen gut- oder bösgemeinten Versuch mehr habt Ihr Euch da ausgedacht, um das Unerklärliche doch noch zu erklären; das nenne ich Beharrlichkeit und passt ganz gut in mein Bild. Dabei ist alles so klar, dass ich mich fast schäme, es auch noch aufzuschreiben. Mein überflüssiger Beitrag ist aber deshalb so grundsätzlicher Art, dass er auf alle drei Zeitdimensionen zutrifft: Die Filmkunst hat weltweit den Zenit längst überschritten, ausser in Burundi und in der Schweiz. Dass uns dieser Moment noch bevorsteht, erfüllt manche mit Hoffnung.

Aufgrund eines kleinen Unterschieds zwischen Burundi und der Schweiz glauben hier nur noch wenige an die Filmkunst, aber umso mehr an die Erlernbarkeit des Filmhandwerks. So waren denn in Sachen Film die aufregendsten Ereignisse der letzten zehn Jahre die Drehbuchseminare von Kieslowski & Zebrowski, die Weekends, Rendez-vous, Workshops und Master-Kurse der FOCAL, die Gründung der «Denkfabrik» ARC und ihre branchenbeglückende Erfindung der automatischen Förderung, der tiefe Wunsch nach einem überväterlichen, nationalen Filminstitut, die Direktionswechsel unserer Festivals, die Dauervakanz in der Chefetage der Sektion Film, das Überhandnehmen des neuen Produzenten- Selbstbewusstseins und vor allem das konsequente Bestreben des Fernsehens und der (fast) ganzen Filmbranche, die «Filmkunst« integral und ohne Rücksicht auf Verluste dem Warenbegriff «Audiovision» zu unterwerfen.

Der kleine Unterschied, von dem ich eingangs sprach, ist der: Hier tut niemandem nichts wirklich weh!

Fredi M. Murer, Zürich

La salamandre

(Bild: La salamandre)

Thomas Koerfer

1. Frage nach altem/neuem Schweizerfilm?

Vorweg gilt es immer wieder klarzustellen, dass ich an den Begriff «Schweizer Film» für die Filme in der Schweiz in den letzten zwanzig Jahren nicht glaube, ich diesen Begriff falsch finde, indem er von etwas einheitlich Bestimmbarem ausgeht, einem Zentrum. Und dieses Zentrum gibt es nicht. Auf den Film der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre kann der Begriff Schweizer Film noch zutreffen. Er kreiste zentral um den Begriff Heimat – gab vor, diese aufzubauen oder zu verteidigen – selten auch, sie zu hinterfragen – zu einer Zeit, als eine Gesellschaft vorgab, sich mit dem Begriff Heimat im Sinne der Verbundenheit mit der Nation vereinigen zu können.

Am alten Schweizer Film liebe ich seine Dramatik und Künstlichkeit, die auch im Verfolgen des Realismus von einer Hollywood Lichtdramaturgie nicht zurückschreckt. Die letzte Chance von Lindtberg ist da das schönste und stärkste Beispiel. Lindtberg war die vorzügliche Mischung von gutem Handwerker, starkem Inszenierer und hervorragendem Schauspielertalentherauskitzler. Auch bei Schnyder mag ich seine übersteigerte Künstlichkeit des Bauerndramas, vergleichbar mit dem Western-Milieu von John Ford. Früh war der wirkliche Realist, witzig und trocken wie Pagnol. Seine Epigonen in den letzten zwanzig Jahren wirken für mich, ausser Rolf Lyssy mit den Schweizermachern, brav und fad, und im Falle von Gloor zudem noch verkitscht.

Mit dem Ende der sechziger und dem Anfang der siebziger Jahre brachen ganz verschiedene Strömungen im Film in der Schweiz auf. Die Welschen lehrten im Sinne der Nouvelle Vague luftig und listig zu erzählen. Jedoch hemmten sie sich selbst mit ideologischem Überbau von Direkt-Ton und Plan-Sequence, was zum ewig gleichen Erzählrhythmus führt. Liebevoll übernahm die jüngere welsche Filmer-Generation dieses ideologische Filmgepäck und wurde so nie frei, nur schwächer – ein munteres Beispiel dafür, dass es schwierig ist, sich von symphatisehen Übervätern zu distanzieren oder diese zu überholen oder auch zu überlisten. Der Film in der Westschweiz war mir am Anfang der siebziger Jahre sehr wichtig – Tanners Charles mort ou vif und La salamandre waren Glücksgefühle. Heute langweilt mich die anämische Introspektion vieler Filme der jüngeren Generation im Welschland.

2. Situation des aktuellen Films?

Leider ist der Zustand nicht so sehr etwas wie eine Krise, wenn ich davon ausgehe, dass die Krise eine Turbulenz eines sonst vitalen Wesens oder einer sonst starken Kulturäusserungsform ist. Krisen sind oftmals kreativ! Ich empfinde den Zustand eher als Kriechen an Ort. Viel zu viel Jammerenergie wurde in den letzten Zeiten aufgebracht, und die Diskussion um Förderungsmodelle, Gremien und Finanzierungsquellen scheint den sonst nützlichen Motor der Lust Filme zu machen ersetzt zu haben. Das Ausbildungsfieber wird es noch möglich machen, dass jeder den anderen und sich selbst so vehement ausbildet, dass gar keine Filme mehr produziert werden müssen.

Mir gefallen alle eigenwilligen Filme, seien sie karg oder opulent, die mich in die wirkliche Fiktion mitnehmen, angefangen beim wundersamen Geschichtenerzähler Daniel Schmid – ich freue mich auf jeden seiner Filme! – bis zum viel kargeren Jürg Helbling mit seinem Nebelläufer zum Beispiel.

Rezepte gibt es zum Glück keine – nur die eigene Obsession, das Freischwimmen der eigenen Erzählfreudigkeit und Erzähllust. Alle Kopierer sind so, wie Kopien einmal sind – schlechter und fad, und bleichen auch sehr schnell aus.

Möglich ist es auch zu sagen: das Land hat die Filme, die es verdient. Verdient das Land Schweiz zurzeit wirklich bessere Filme als diejenigen, die es hat?

3. Perspektive des Films in der Schweiz?

Zum filmpolitischen nur der eine Satz: es wird gelten, die effektive kommerziellere Förderung (zum Beispiel automatische Förderung) und die reine Kulturförderung stark zu trennen, wobei beide mutig vorangetrieben werden müssen, und dann gilt es alle Entscheidungsvorgänge von kleinen Gruppen zu fällen, das heisst alle Gremien müssen professionalisiert und in der Besetzung auf weniger als die Hälfte reduziert werden.

Der Film in der Schweiz wird sich neu orientieren müssen, denn die Schweiz und die Städte sind kein Thema mehr – im Sinne von Züri brännt lohnt sich das Anzünden von Zürich heute nicht mehr, und auch der Herr Bundespräsident hat sich jetzt für die Rückweisung von Juden an den Schweizer Grenzen im Zweiten Weltkrieg für die Rückweisung in den Tod entschuldigt – wann entstand noch Markus Imhoofs Das Boot ist voll?

Vielleicht und hoffentlich wird der Spielfilm in der Schweiz noch stärker in die wirkliche Fiktion vordringen – nicht gehemmt durch ein aufgedrücktes CH-Label – und sich in den erfundenen Geschichten auf die wirklichen Gefühle von wirklichen Menschen einlassen, auf ihre wirklichen Erfahrungen, ihre wirklichen Kämpfe und ihre wirklichenTräume, erfundene gelebte Leben, im geografischen Raum von hier oder anderswo, was letztlich völlig nebensächlich ist. Die Intensität des Erzählens und mit ihr die Intensität der Bilder und der Sprache sind alleinzig ausschlaggebend.

Thomas Koerfer, Zürich

Zueribraennt

(Bild: Züri brännt)

Res Balzli

Es gibt den «Schweizer Film»nicht.

Es gibt nur eine Unmenge mehr oder weniger gelungener Filme, die von der Schweiz handeln oder von Leuten geschaffen werden, die zufälligerweise in diesem Land ansässig sind.

Es gibt Filme, die Wirklichkeit einfangen und kreativ verarbeiten, und es gibt solche, die eine eigene Wirklichkeit erfinden.

Die erste Kategorie, die sogenannten Dokumentarfilme, florieren in grosser Vielfalt. Der Umgang mit Fiktion scheint schwieriger zu sein. Spielfilme uberzeugenden Inhalts und Form sind selten in der Schweiz.

Einen Spielfilm herzustellen, ist unvorstellbar komplex. Nur wenige Filmschaffende finden sich damit zurecht. Seit einigen Jahren wird erschreckend viel Ausschuss produziert.

Was soll man dagegen tun?

In sich gehen. Sich nicht vom Ehrgeiz treiben lassen, auch mal einen richtigen Spielfilm zu machen, sondern sich selbst befragen, ob man wirklich etwas zu agen hat, und ob man in der Lage ist, dies auch für ein Publikum nachvollziehbar umzusetzen.

So würde die Entscheidung, welche Filme entstehen dürfen, nicht mehr an die unzähligen Gremien delegiert, sondern zurückgeholt in die Reihen der Urheber und Urheberinnen.

Für mich selbst habe ich diese Frage längst beantwortet. Deshalb bin ich nicht Regisseur geworden, sondern Produzent. Ich stelle mich in den Dienst jener Filmschaffender, von denen ich glaube, dass sie etwas zu sagen haben und dies auch können.

Res Balzli, Produzent, Nidau

Hoehenfeuer

(Bild: Höhenfeuer)

Erwin Leiser

Meine Stellungnahme zu Ihren drei Fragekomplexen dürfte sich von den Antworten anderer Adressaten dadurch unterscheiden, dass ich ein WahlZürcher bin, ein Berliner mit einem schwedischen Pass, der vor fast fünfzig Jahren zum ersten Mal nach Zürich kam und seit 1961 von hier aus Filme macht, die sich an ein internationales Programm wenden. Damit stehe ich, wenn Sie so wollen, in der Tradition des «Alten» Schweizer Films, denn mein erster Schweizer Produzent, Lazar Wechsler, für dessen Praesens-Film ich meinen ersten Schweizer Film machte, Eichmann und das dritte Reich, ging davon aus, dass der Schweizer Film nur überleben könne, wenn er durch seine Themen und seine Qualität auch ausserhalb des eigenen Landes ein Publikum finden würde. Er wusste aber auch, dass man 1970 nicht mehr Filme auf dieselbe Art machen konnte wie während des Zweiten Weltkrieges. Und 1995 wissen wir, dass Filme altern und viele Regeln nicht mehr gelten, nach denen sich auch die heute aktiven Filmemacher am Beginn ihrer Karriere noch richteten.

Die Probleme des Schweizer Films darf man meiner Ansicht nach nicht isoliert von denen des Films in Europa und den USA betrachten. Die kleinen Filmländer, von denen ich Schweden gut kenne, aber auch Deutschland und sogar Frankreich, Italien und England sind zurzeit in einer Krise, was Inhalt, Ausdrucksmittel und die Möglichkeiten betrifft, sich gegenüber den neuen Massenmedien zu behaupten. Gibt es überhaupt den Schweizer Film? In der europäischen Filmakademie fällt es uns schwer, den Europäischen Film zu definieren, dessen Existenz von der amerikanischen Filmindustrie bedroht wird. Ich glaube, dass die Zukunft des Films in jedem europäischen Land davon abhängt, ob da Filme entstehen, die durch ihre künstlerische Qualität überzeugen und entweder in dieser Art in keinem anderen Land möglich wären, aus Schweizer Sicht also Höhenfeuer, oder die für ein grosses Publikum überall in der Welt bestimmt sind, also sowohl Vier im Jeep wie Reisender Krieger. Das Hauptproblem sehe ich generell darin, dass kein Filmemacher damit rechnen kann, in seinem Beruf kontinuierlich arbeiten zu können. Keiner kann sich einen Flop leisten. Als Ingmar Bergman seine ersten Filme machte, hatte er keinen Erfolg, weder beim Publikum noch bei der Kritik in Schweden, aber er hatte Produzenten, die an ihn glaubten. Deshalb durfte er weiter Filme machen. Wo gibt es heute solche Produzenten?

Die Zukunft des Schweizer Films hängt davon ab, wer in der Schweiz von morgen die Möglichkeit bekommt, gute Filme zu machen. Ich halte es für falsch, Forderungen zu formulieren, der Schweizer Film muss sich nicht in irgendeine Richtung entwickeln, weil man niemandem vorschreiben kann, was für Filme er macht; und überall, und nicht nur in der Schweiz, ist es unmöglich, die Chancen eines Films vorauszusagen. Grosse Begabungen setzen sich immer durch, auch in einem unfreundlichen Klima, und wenn man sie zum Zuge kommen lässt, hat der Film in ihrem Lande eine Zukunft. Die Zukunft des Films in der Schweiz lässt sich aber nicht von oben organisieren, und ob die Schweizer Filmemacher von morgen an den «Alten» oder «Neuen» Schweizer Film, oder an irgendeine Tradition überhaupt, anknüpfen, kann man ihnen nicht vorschreiben. Als «freier» Filmproduzent seit 35 Jahren bin ich Berufsoptimist und glaube also trotz aller Probleme an die Zukunft des Schweizer Films.

Erwin Leiser, Zürich

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(Bild: Reisender Krieger)

Bruno D. Kiser

Mir fallen zum Thema «Schweizer Film» spontan zwei «heilige Kühe»ein. Zusammengefasst erkenne ich im «alten» Schweizer Film eine inhaltliche Gemeinsamkeit: die «geistige Landesverteidigung». Im «aktuellen» Schweizer Film drängt sich mir ein produktionstechnischer Vergleich auf: unsere «Landwirtschaftspolitik».

Vor mehr als zehn Jahren kam ich, jung und naiv, mit meiner ersten Videoproduktion von der Münchner Filmhochschule an die Solothurner Filmtage. Ich war gespannt auf die Reaktionen meiner Kollegen.

Doch die Reaktionen blieben aus, denn aus dubiosen Gründen heraus vergass man einfach, meinen deutschen Co-Regisseur und mich zur Diskussion aufzurufen. Das kann ja passieren, dachten wir. Doch überraupt schien es, als würde man ich einfach weigern, unsere Produktion wahrzunehmen. Man redete über irgendwelche Koryihäen, die irgend einen Kurzfilm gedreht oder anscheinend irgend etwas ganz Wichtiges gesagt hatten. Mein Freund stupste mich dann jeweils an und wollte wissen: «Was für ein Hansheini hat hier was gesagt?» Als wir zurückfuhren, fragte er mich, ob wir denn nun wirklich bei Filmagen oder an einem Sektenreffen gewesen wären.

Ich vertröstete mich auf meine Abschlussproduktion und hoffte, dass dann wohl irgendvelche Reaktionen kommen würden. Die kamen dann auch tatsächlich. Ich erinnere mich noch bestens, wie der damalige Leiter der Filmtage hinten im Saal auf mich ein wetterte und mit seiner Bierflasche herumuchtelte, als hätte ich ihn perönlich beleidigt, dass ich es noch einmal wagte, hierher einen Film zu bringen. Vielleicht hatte mein Freund doch Recht, wenn er von einer Sekte sprach, in der man mangels Huldigung eines Gurus verstossen wird.

Zu meiner grossen Überaschung fand ich dann aber heraus, dass es einige wichtige Medienschaffende in der Schweiz und in Deutschland gab, für die es geradezu ein Qualitätsmerkmal war, wenn man in Solothurn durchfiel.

Dieser Umstand hat mich bis heute, also zehn Jahre, in und für meinen Beruf überleben lassen. Was ich damals kaum für möglich gehalten hätte, hat sich bewahrheitet: Man kann in der Schweiz als freischaffender Autor und Regisseur überleben, ohne selbstgefälligen Gurus zu huldigen oder sich «Filmschaffender» zu nennen, aber entweder vom Vermögen der Eltern oder von der Arbeitslosenkasse zu leben. Das ist ermutigend.

Weniger ermutigend ist die Verteilung der staatlichen Filmförderungsgelder. Ich habe es noch zwei Mal versucht. Zwei bescheidene Drehbuchanträge waren es. Beim ersten kam zur Absage praktisch keine Begründung. Bei der zweiten Absage stand in der Begründung, dass das Projekt abgelehnt wurde, weil «kein professioneller Autor» im Projekt sei, obwohl ich einen Filmhochschulabschluss hatte, schon mehrere Jahre einzig und allein von meinem Beruf lebte und Mitglied der beiden massgebenden Berufsverbände war. Deshalb wollte ich der Absurdität dieser Begründung nachgehen und habe mir die Telefonnummer von jemandem aus der Filmkommission geben lassen. Es stellte sich heraus, dass es sich um einen Beleuchter handelte. Er hat sich dann ernsthaft bemüht, mir zu erklären, dass es halt in der Schweiz zu viele Filmschaffende pro Einwohner gebe. Auch eine mögliche Begründung.

Auch das ist jetzt schon Jahre her. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass es in der staatlichen Förderung ähnlich lief wie in der Landwirtschaftspolitik: es gab sowas wie «Milch-» sprich: «Filmkontingente». Gewisse Personen hatten eines, ich und andere hatten keines. Zum Zuschauer degradiert habe ich mir also ein bisschen angeschaut, was denn da so gefördert wurde, und war damit wenigstens einer der wenigen Zuschauer: Es wurde Flop um Flop der gleichen «förderungswürdigen» Personen produziert, und kaum war ein Flop perfekt und waren die Handlungsunkosten und der Gewinn abgerechnet, war schon das nächste Drehbuch- oder Produktionsbudget derselben Person als gefördert im Cine-Bulletin publiziert. Wer ein «Filmkontingent» hatte, durfte anscheinend so und so viele Flops dem Staat zur sicheren Aufbewahrung abliefern. Filmschaffende förderten über die Kommission ihre eigenen und die Produktionen ihrer Freunde und Freundinnen. So war es etwa auch kein Geheimnis, dass die Gelder eher flossen, wenn obgenannter professioneller Beleuchter, der mich als nichtprofessionellen Autor bezeichnete, auf der Stabliste erschien. (Clevere Produzentinnen strichen ihn dann nach der Zusage wieder.) Interessenkonflikte hätte das sonstwo geheissen, aber nicht so im Schweizer Film.

Die Verhältnisse haben sich inzwischen gebessert. In die Filmkornmission kamen neue, professionelle Leute. In Solothurn verwandelte sich der «Film-Guru» zum «Filrn-Ötzi». Es gab Bravourstücke in unserer Filmproduktion: ein Höhenfeuer, eine Reise der Hoffnung und andere. Das sind Ausnahmen, leider grosse Ausnahmen, denen auch meiner Ansicht nach ein «Filmkontingent» zustehen würde, die aber entweder gar nicht so viel Film abliefern, ausgewandert sind oder erst gar nicht in der Schweiz um Gelder nachfragen, wie etwa der meistausgezeichnete Produzent überhaupt. Mit solchen Menschen könnte aus der Filmpolitik mittelfristig eine Filmindustrie entstehen, welche Filme fürs Publikum und nicht für sich und die Handlungsunkosten produziert.

Vielleicht wäre es aber sowohl im Film wie in der Landwirtschaft besser, professionelle, publikumsorientierte Kultur beziehungsweise ökologisch verantwortbare Marktwirtschaft zu fördern, als die Milchschwemme und den Käse einer Lobby zu subventionieren.

Bruno D. Kiser, Autor und Regisseur, Zürich

HHK Schoenherr

Zwischen Dreharbeiten, also ganz kurz will ich antworten, mit einer Frage antworten: Gibt es in der Schweiz Platz für ein Kino aus einer neuen Höhe, gibt es einen Platz für Experialfilme?

HHK Schoenherr, Hinweiser & Filmmacher, Zürich

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(Bild: Höhenfeuer)

Urs Graf

Zwei Ansprüche aus den Anfängen des «Neuen Schweizer Films» sind mir wichtig geblieben. 1. Sich in der eigenen Absprache mit den Lebensbedingungen in diesem Teil der Welt auseinandersetzen. 2. Nicht einfach die herrschenden filmischen Normen benutzen, sondern sie hinterfragen und den Film (immer wieder) neu erfinden.

Jahr für Jahr entstehen in der Schweiz ein paar überzeugende Filme. Und fast jedes Jahr ist eh ein Film dabei, der mir wichtig ist (und der mir wichtig bleibt, der sich meiner Erinnerung unauslöschlich einprägt) – wichtig für mich als Teil des Kinopublikums und für meine Arbeit als Filmautor – als Anregung und, was mir noch wichtier ist, als ein Zeichen, das mir zeigt, dass ich mit meiner Suche nicht allein bin. Dabei ist es nicht entsheidend, ob ich nun jeden einzelnen Film als gelungen oder misslungen empfinde, sondern dass solche Filme mich zu einer Reise ins Unbekannte (des Bekannten) einladen, zu einem Versuch, sich auf eine andere Weise von der Welt ein Bild zu machen. Damit auch deutlich wird, wovon ich hier konkret spreche, nenne ich einige Autorennamen, die mir dazu einfallen: Clemens Klopfenstein (s/w), Jürg Hassler, Anne Marie Mieville, Veronique Coel, Peter Mettler, Nicolas Humbert/Werner Penzel, Fred van der Kooji, Peter Liechti ... Wie gesagt, geht es mir hier nicht um die Qualität der einzelnen Filme, sondern um eine Art der filmischen Arbeit. Wenn ich ins Kino gehe, dann in der Hoffnung, dass sich durch das Filmerlebnis mein Blick auf die Welt in irgendeiner Weise – und sei es auch nur ein winziges bisschen – verrücken wird. Und solche Tendenzen, solche verrückte Momente gibt es auch in vielen andern Filmen unterschiedlichster Autorinnen und Autoren. Wenn dieses Verrückte geschieht, hat sich der Kinoabend für mich gelohnt.

Ich bin unsicher, ob die «Reisenden Krieger» auf dem audiovisuellen Markt noch eine Zukunft haben. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Wünsche von denen verstanden werden können, die sich dafür engagieren, dass ein Teil des Kulturgeldes (auf Umwegen) in eine Automatische Filmförderung abgezweigt werden soll, die sich den Erfolg an den Kinokassen zum Massstab nehmen will. Und es erscheint mir als absurd, wenn versucht würde, mit solchen Strategen des freien Marktes und ihren Mitläufern, über künstlerische Fragen zu diskutieren.

Es ist noch nicht lange her, da glaubte ich, die Filmbranche sei sich einig, wenn gegenüber den Fernsehanstalten argumentiert wurde, es müsse um Qualität gehen und gegen das Diktat der Einschaltquoten. Es ist erschreckend, wie schnell sich auch hierzulande das Denken in der Filmbranche seit dem Anschluss der DDR, dem Niedergang der Sowjetunion, dem kulturvernichtenden Siegeszug der Reinen Marktwirtschaft verändert hat. Was sollen da Fragen nach filmischer Ästhetik – da geht es um Geld und Prestige.

Doch es gibt auch Gründe zur Hoffnung:

Für die Weiterbildungskurse der ArGe Dokumentarfilm des VSFG haben wir uns zum Prinzip gemacht, dass niemand die Teilnehmer etwas lehrt, sondern dass wir zusammen mit den eingeladenen Autoren und Theoretikern den Fragen nachgehen, die sich ihnen heute in ihrer Arbeit stellen, um gemeinsam ins Unbekannte zu denken – zu filmischen Formen, die noch nicht entwickelt sind, zu Filmen, die noch zu machen sein werden. Erfreulich ist, dass sich Jahr für Jahr mehr Filmschaffende zu diesen Kursen anmelden (sodass wir sie leider zum Teil abweisen müssen).

Seit dreizehn Jahren unterrichte ich zusammen mit Marlies Graf Dätwyler an der ETH Zürich «Filmkunde» unter dem Titel «Suche nach den eigenen Bildern, Suche nach den eigenen Tönen». Unsere Kenntnisse aus der Filmgeschichte und die Erfahrungen aus der Praxis unserer Filmarbeit sind der Boden, um auch hier Schritte ins Unbekannte, in filmisches Neuland zu ermöglichen. Am Anfang ist es für die Teilnehmer jeweils etwas irritierend, dass hier die filmischen Konventionen nicht als verbindlicher Wertmassstab gelten; doch Jahr für Jahr lassen sich mehr Leute auf dieses Wagnis ein. Von einigen wurden inzwischen Filme an den Solothurner Filmtagen und am VIPER gezeigt (worauf der Kurs eigentlich nicht abzielt); doch auch die Vorstellung, neugierige und offene Leute wie unsere Kurs-Teilnehmer könnten unser zukünftiges Kinopublikum sein, ist ermutigend.

Es werden weiterhin mit Millionen von Dollars für Millionen von Zuschauern Filme produziert werden; es ist unsinnig, wenn mit den beschränkten Mitteln, die in der Schweiz zur Verfügung stehen, solchen Vorbildern nachgeeifert wird. Und wäre wirklich etwas gewonnen (ausser Geld), wenn es gelingen würde, solche Publikumsgelüste mit einheimischer Ware zu befriedigen? Dazu kommt, dass hierzulande solche Experimente, die mit festem Blick auf die Kinokasse durchgeführt wurden, zu kläglichen Resultaten geführt haben.

Und es ist schade, wenn Kulturgelder den Projekten zugesprochen werden, die als «sicher» erscheinen. Wie die Erfahrung zeigt, entsteht daraus mit grosser Sicherheit nur mehr oder weniger durchschnittliche Langweile.

Ich bin davon überzeugt, dass es die Projekte sind, die abenteuerlich und risikoreich erscheinen, die zu interessanten, intensiven, bewegenden (und natürlich auch irritierenden) Filmen führen.

Eigentlich braucht es keinen Mut, um daraus die Prioritäten für die Filmförderung zu setzen – die deutlichen Qualitätsunterschiede der realisierten Filme sprechen für sich.

Urs Graf, Zürich

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(Bild: Reisender Krieger)

Friedrich Kappeler

1.

Als ich vor etwa 25 Jahren anfing, in Frauenfeld Filme zu machen, allein gegen den Rest der Welt, wie es mir schien, bin ich mir vorgekommen wie ein Spinner, wie Emil Eberli, der Idiot des Städtlis, den ich damals porträtiert habe. Erst später, in Solothurn und in Zürich, habe ich Leute getroffen, die dasselbe wie ich taten, und so bekam meine Krankheit wenigstens einen Namen; Jungfilmer hiess das damals. Die am Schweizerfilm engagierten Leute, die ich nun kennen lernte, bildeten eine Art exotische Insel im Landesinneren, und auf diese Insel habe ich mich seither immer wieder zurückziehen müssen, um einigermassen selbstverständlich Filme realisieren zu können.

2.

Ich finde, wir sollten endlich aufhören, über das momentane Spielfilmtief zu lamentieren. Es gibt hier, wie überall, Wellen; schliesslich hat es auch Jahrzehnte gedauert bis beim CH-Fussball oder Radsport, trotz viel Geld und Anstrengungen, sich einige wieder zu ganz grosser Form haben aufschwingen können.

3.

Es passiert mir vielleicht zwei- bis dreimal im Jahr, da komme ich richtig aufgewühlt aus dem Kino, und wenn ich dann an uns CH-Filmer denke, scheint es mir, wir seien etwas kleinmütig geworden, unseren Filmen fehle Stringenz, Kraft, Fantasie, Charme, Witz und Poesie, leider.

Friedrich Kappeler, Frauenfeld

Pascal Verdosci

1.

Der Alte Schweizer Film ist für mich der sehr alte Schweizer Film, schwarz-weiss Filme, gute Darsteller, alte und e, ig wiederkehrende Themen, die zum Teil antiquiert dargestellt, zum Teil aber auch sehr stimmungsvoll gemacht sind. Der Neue Schweizer Film ist für mich bereits der Alte Schweizer Film, weil 68er und so. Godard, Goretta, lmhoof und die andern sind doch auch schon alte Filmer, deren Filme sowieso. Deren Themen sind zu Beginn bestimmt mit sehr viel Engagement auch

sehr gut umgesetzt worden, aber die letzten Filme dieser Regisseure sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Aber weder der eine, der Alte Schweizer Film, noch der Neue Schweizer Film, sind für mich Hassobjekte. Beide haben sehr schöne Filme hervorgebracht, beide auch sehr schlechte. Mir ist die Einteilung nur historisch wichtig.

2.

Der aktuelle Schweizer Film ist nicht mehr der Neue Schweizer Film, aber auch kein neuer. Samir und andere junge Zürcher Regisseure haben bestimmt einen neuen Stil geprägt, doch ein allgemeines Thema kann nicht ausgemacht werden, was vielleicht so schlecht auch wieder nicht ist. Denn, ein guter Film erzählt eine gute Geschichte, und nicht ein gutes Thema. Grundsätzlich mag ich mich aber nicht so für den aktuellen Schweizer Film erwärmen, zu eigenbrödlerisch ist oft die Geschichte, zu unausgegoren die formale Umsetzung. Ich erhoffe mir aber viele neue, billig gemachte Filme, die klar eine Geschichte und ein Engagement erzählen. Also lieber viele kleine Geschichten, als ein paar grosse Europa-Produktionen, scheint mir der Weg in die Zukunft zu sein.

3.

Damit habe ich schon fast die dritte Frage beantwortet. Leider habe ich weder Vier im Jeep noch Reisender Krieger gesehen. Aber vielleicht kennen Sie Ausgerechnet Zoé, mit Bestimmtheit der beste Schweizer Film seit Jahren, auch wenn er ein deutscher Film ist. Das ist nun mal aber so mit dem Schweizer Film. Das wird wohl auch in Zukunft so bleiben. Aber ist das schlimm?

Pascal Verdosci, Basel

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(Bild: Ausgerechnet Zoé)

Villi Hermann

1.

Der Alte Schweizer Film war für mich eine Entdeckung und.gleichzeitig schrien wir nach «tabula rasa». Aber: Warum sieht heute der Neue Schweizer Film/ Video so alt aus?

2.

Ich kann nicht selber über den aktuellen Schweizer Film reden, nur einen anderen Cineasten zitieren: «Le cinema se coupe de Ja vie et en meurt. Pour ne pas mourir avec lui, je fais des films fauchés.» Michel Soutter

3.

Mir scheint, dass sich unser Ch-Spielfilm in Richtung Vier im Jeep entwickelt und nicht in einen spontanen erlebnisreichen Spiel (!) Film à la Reisender Krieger. Wobei in den letzten Jahren unsere CH-Spielfilme selten die Vier im Jeep überholten.

Villi Hermann, Lugano

Clemens Klopfenstein

Ich habe die Krise in der Uhrenindustrie in den siebziger Jahren in Biel und die Schliessung hunderter Betriebe mit durchschnittlichen Produkten miterlebt. Aktuell erblüht die Uhrenindustrie von neuem, und zwei Typen von Unternehmern können auf ihren Erfolg stolz sein: diejenigen, die Luxusuhren wie Rolex herstellen und die, welche «swatches» produzieren.

In der Welt des Kinos sind die Rolex-Modelle Filme von Hollywood-Studios, welche mit Budgets von 80 Millionen Dollars realisiert werden. Dagegen handelt es sich bei den «swatches» um originelle und innovative Produktionen mit kleinem Budget. Bei uns wurden die ersten Swatch-Filme von der «groupe des cinq», das heisst Tanner, Roy, Goretta, Soutter, Lagrange, hergestellt. Zu jener Zeit nannte man dies das «cinerna copain». Leider fährt man in der Schweiz fort mit der Förderung der Spitze des Durchschnitts, man imitiert sogar die Amerikaner ... Dies erweist sich unzweifelhaft als lächerlich, bei einem auf 20 Millionen Franken festgesetzen jährlichen Produktionsbudget. Diese Politik hat viel zu teure Filme zur Folge: zwei für acht Millionen!

Nach Produzenten muss in ganz Europa gesucht werden. Eine schwierige Aufgabe, von der vor allem eine gewisse Nomenklatura profitiert, um, dank dem öffentlichen Manna, glückliche Tage zu verleben. Ich bitte die Verantwortlichen der Filmpolitik, engagieren Sie sich für das swatch-cinemal Lassen Sie uns unsere Filme realisieren, mit unseren Wurzeln, unserer Identität, denn sie sind so sehr Dokumente unserer Epoche!

Anderenfalls hätte ich einen anderen Vorschlag: Behandeln Sie uns wie die Schweizer Bauern, leisten Sie Direktzahlungen an uns, damit wir zu drehen aufhören! Mit einer jährlichen Rente von 50 000 Franken verspreche ich Ihnen, den Bund um keine Unterstützung mehr anzugehen. Sie wären von mir befreit. Und ich hätte meinerseits nicht mehr hunderte von Formularen auszufüllen für Koproduktionsprojekte, die selten oder erst nach langen Jahren der Verhandlungen zu Ende kommen.

Clemens Klopfenstein, Bevagna

Cécile Küng

Vor vielen Jahren, als ich endlich alt genug war, um zu fast allen Kinos Zutritt zu erlangen, ging ein lautes Raunen durch dieses Land, hervorgerufen von Filmen, die zu unser aller Erstaunen bei uns entstanden und die einfach sensationell gut waren. Damals ging ich noch in die Lehre als Hochbauzeichnerin und Film fand für mich nur auf der Leinwand statt.

Heute da ich schon seit mehr als zehn Jahren professionell mit dem Schweizer Film arbeite, hat sich die Wahrnehmung verändert. Es gibt Tage, an denen mir meine Arbeit als Kümmern um ein Sorgenkind vorkommt. Ein Filmer sucht schon seit Jahren sein schönes Projekt zu finanzieren. Eine andere hat grad Krach mit ihrem Produzenten. Unsere Kopien kehren völlig zerkratzt von Vorführungen in X zurück. Dann lese ich, dass Filmer A, der als unser Delegierter in Y ein Schweizer Filmprogramm begleitet hat, der Presse dort mitteilte, der Schweizer Film sei ohnehin langweilig und nicht der Rede wert. Einer meiner beiden Mitarbeiter fehlt, er ist krank im Bett, und Dias zum Film B, die in Z dringend für eine anständige Pressearbeit benötigt werden, sind trotz tagelangem Herumtelefonieren nicht aufzutreiben. Der Botschafter S beklagt sich in einem Fax darüber, dass Filmer C während der Pressekonferenz zu unserem Filmprogramm, das grad in seinem Residenzland läuft, einen Kaugummi gekaut hätte, das gehe doch nicht und er will dazu eine Stellungnahme von mir. Auch steht die nächste Stiftungsratssitzung ins Haus, die muss noch vorbereitet werden.

An allen Ecken und Enden fehlt's an Geld und daran ist irgendwie jedermann schuld, ich natürlich auch, da ich ja bei Pro Helvetia arbeite, wo angeblich die Millionen ruhig vor sich hin dampfen. Und jedermann weiss besser, was mit dem wenigen, das vorhanden ist, gemacht werden muss. Der Mief herrscht, das erleuchtete Viereck auf der Leinwand ist kaum mehr zu erkennen.

Spricht man mit Angehörigen der «Filmkuchen» anderer Länder, trifft man auf denselben Mief. Wer denkt bei Kaurismäkis Filmen an den Mief, der im finnischen, wer angesichts von Solanas Filmen an den Mief, der im argentinischen «Filmkuchen» herrscht? Niemand ausser der «Kuchen» selbst.

Aber dann gibt's auch die Zeiten, wo's nur um den Film geht, und das sind gute Zeiten. Dicke Artikelsammlungen aus Indien kommen an, wo Alain Tanners Filme klug besprochen und von vielen tausend Zuschauern gesehen wurden, ein Brief aus Kolumbien unterschrieben von neunzehn Leuten, die alle dringend mitteilen wollen, dass sie von Dindos Arthur Rimbaud begeistert sind. Erinnerungen an Vorführungen im Senegal, wo jeweils einige tausend Menschen staunend Schweizer Filme auf der Leinwand verfolgt haben, an jene Französin, die sich mir während eines Festivals treu anschloss, weil ich aus jenem Land kam, das ihr die wunderbare «a me soeur» beschert hatte, an den Koreaner, der mir in New York mit leuchtenden Augen von den Schweizer Filmen erzählte, die er vor Jahren in Seoul gesehen hatte, an jenen Abend in der Wüste Gobi, wo mir ein tief bewegter Mann die Hand schüttelte und beteuerte, dass sie genau solche Filme bräuchten, wie wir sie aus der Schweiz gebracht hatten, oder an die vielen Japanerinnen und Japaner, die sich mit Ehrfurcht nach dem neuesten Film von Daniel Schmid erkundigen. Faxs treffen ein, in Kiev will man alle Filme von Michel Soutter sehen, im Pompidou möchte man gegen hundert Schweizer Filme zeigen, in Schottland interessiert man sich speziell für die Frauen im Schweizer Film, und ein Anrufer hat einen Film gesehen, dessen Titel er vergessen hat, aber seinen Freunden im Filmclub unbedingt zeigen will, weil er ganz toll und wichtig sei. Wir kommen dann auf den Titel, Well Done. – Da herrscht kein Mief, sondern Neugierde und Freude an den Filmen aus der Schweiz. Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Mir ist sehr bewusst, dass sich der Film, nicht nur in der Schweiz, was seine Produktions- und Distributionsverhältnisse anbelangt, in Schwierigkeiten befindet. Die müssen gelöst werden, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern um das Viereck auf der Leinwand noch hunderte von Jahren leuchten zu lassen.

Cecile Küng, Leiterin des Filmdienstes der Schweizer Kulturstiftung, Pro Helvetia, Zürich

Julius Effenberger

Das schweizerische Filmschaffen ist – zu Recht? – von der Landesmentalität geprägt, und nach derselben ist auch das Zustandekommen von Filmen in der Schweiz organisiert. Die Landesmentalität ist vorsichtig, und so wickelt sich auch die Herstellung von Filmen ab. Vorsicht aber ist die schlechteste Voraussetzung jeglichen kulturellen Schaffens. Kultur formt das Unbekannte, das Zukünftige. Vorsicht aber will vor allem keinen falschen Schritt tun. Willst du Filme machen, so gehe in die USA, sagte mir jemand vor einem Jahrzehnt, aber ich sitze (stehe, laufe herum) noch hier und mache – folgerichtig – keine Filme, da es mir immer Absagen in den Briefkasten regnet. Meine Sicht der Dinge ist deshalb nicht unvoreingenommen, aber das ist keine Sicht, auch jene nicht, die noch so «objektiv» tut, wie etwa die Werturteile der unzähligen Kommissionen, Ausschüsse und Experten, die im hiesigen Alpenland über Sein und Nichtsein von Filmen entscheiden.

Seit Jahren hat sich eine Zentralisierung des Entscheids, welcher Film in der Schweiz gedreht wird, herausgebildet: Heute amten die Fernsehabteilungen für Dramatik sowie der Begutachtungsausschuss der Sektion Film beim Bundesdepartement des Innern als eigentliche Zensurbehörden. Sollte der Bund ursprünglich das Restgeld geben, so läuft heute ohne ihn nichts. Ebensowenig ohne das Fernsehen. Erst wenn diese zwei sich positiv stellen, blöken dann die andern ihr Ja hintendrein. Geben Bund und Fernsehen zusammen aber nicht etliche Hunderttausend, so verliert das Ausland Interesse an einer Zusammenarbeit mit der Schweiz, die nach wie vor namentlich mit Mammon Geld zu locken vermag.

Die zuständigen Stellen von Bund und Fernsehen achten als Zensurbehörden – im Gegensatz zu den Verhältnissen in «totalitären» Staaten – nicht primär darauf, dass das Filmprojekt nicht irgendeine Staatsideologie verhunzt (höchstens das Image als Ferienland soll nicht geschädigt werden). Sie passen vor allem auf, dass sie bei ihren eigenen Kontrollorganen nicht auf Widerstand stossen. Eine solche Selbstdisziplin kann durchaus unbewusst sein. Sie ist auch, sobald ein Mensch im Namen des Staatsmonopols (dazu gehört auch das Fernsehen) entscheidet und Steuergelder vergibt, durchaus naheliegend.

Die weitere Crux des Filmschaffens in der Schweiz ist der mangelnde Rückhalt in der Bevölkerung. Dies und die Zensur bewirken, dass sich das Filmschaffen weder inhaltlich noch formal vom Fleck rührt. Und das führt wiederum zum Desinteresse des Publikums.

Das schweizerische Filmschaffen ist Abbild der Landesmentalität, es verharrt in verkrampfter Igelstellung. Darin liegt hier die Charakterschwäche, sie ist schon auf den Strassen offensichtlich: Die Leute gehen mit eisigen Mienen aneinander vorbei, und sogar Leute, die sich kennen, forschen nacheinander mit überwachendem Blick neugierig nur aus der Ferne. Dann, beim Kreuzen, schauen sie stur und starr weg. Filmschaffen entsteht nicht im Alleingang. Dazu braucht es Zusammenarbeit, zwischen den Filmschaffenden selbst, und auch mit dem Publikum. Auf den Schweizer Strassen aber sieht und fühlt man, dass die Leute miteinander nichts gemein haben wollen. Sie schauen voneinander weg. Wie sollten sie auf Filme, welche die Weltsicht eines andern spiegeln, gespannt sein?

Unter den Filmschaffenden selbst herrscht Arroganz und Vetterliwirtschaft – ähnlich wie in anderen Ländern, durch die Kleinheit des Landes aber noch verschlimmert. Man will Filme machen, sich als Filmkünstler fühlen, aber eine eigene Sicht der Dinge (welche die Kameragestaltung erst rechtfertigen würde) fehlt meistens, oder geht spätestens am Widerstand der Mitarbeiter flöten, da ja alle eigen sein wollen (ungern den andern ansehen, siehe oben zu den Strassen blicken) und fast ausnahmslos an der Wohlstandskrankheit der Bequemlichkeit und an der Schweizerkrankheit der Vorsicht leiden. Das Filmbild soll vor allem sauber und scharf sein – nur nicht zu originell. Sonst gibt's von der Jury für Filmprämien keine Zusatzsubvention von paar tausend Fränkli, und – viel schlimmer – einen Job mehr beim TV. Das TV aber passt auf, dass es weder vorn hintersten Ledersofabürger noch von den Aufsichtsstellen eine Rüge einfährt.

In der Schweiz lässt sich viel Fantasie wohl im Geldhandel au leben, aber mit Filmkunst – da hat sich seit Gopfert Keller nichts geändert – ist es hier aus angeführten mentalen und organisatorischen Gründen mager bestellt. Höchstens bodenständige Dokumente – die sogar mittelmässig aufmüpfig sein können (wie der Surava-Film, der sich allerdings brav an Vergangenes hält), stets aber an der Oberfläche kleben – haben bei einer Landesmentalität, die noch der Scholle nah ist, eine Chance. Alle zwanzig, dreissig Jahre gibt es Ausnahmen. Den Abschluss der letzten guten Zeit waren Lyssys Schweizermacher – durch die sich offenbar ein ganzes Artistenleben auch schon verbraucht hatte.

Es bräuchte vor allem Leute, die aufeinander gespannt sind, und dann solche mit etwas (nicht einmal so viel) Geld, mit eigenem Geschmack und Werturteil, und die das Anliegen haben, mit Filmen auf ihre Umwelt einzuwirken – um das Monopol der Fernseh- und Bundeszensur zu brechen. Es bräuchte den Mut zum Wagnis – um den schalen Filmstories aus den USA, welche die Erdkugel überfluten und die Weltmilliarden erziehen, die Stirn zu bieten.

Julius Effenberger, Bern

Die schweizer macher 033

(Bild: Die Schweizermacher)

Veronika Minder

1. Zum neuen Schweizerfilm (mit grossem N ... ?)

Das «Kellerkino» ist ein sehr kleines Kino; mit 56 Plätzen und zwei Vorstellungen pro Tag freuen wir uns über 20 bis 30 Besucherlnnen pro Vorstellung. Wenn also wöchentlich 500 Leute Das bolivianische Tagebuch von Richard Dindo gesehen haben, war das ein Grosserfolg für unser Kino ...

Mit anderen Worten: Schweizerfilme, natürlich am liebsten diejenigen, die auch ein Publikum finden, sind fixer Bestandteil unseres Programms.

2. Zur Charakterisierung der Situation des CH-Movies?

... möchte ich mich keinesfalls zu irgendwelchen Worthülsen hinreissen lassen. «normalerweise» hat der Dokumentarfilm bei uns meistens bessere Presse und mehr Publikum. Dies ist aber auch deswegen so, weil das sogenannte «grosse Kino» sowieso nicht im «Kellerkino» gezeigt wird.

3. Wohin und weshalb entwickelt sich der Schweizer Film?

Hoffentlich noch viel mehr und mehr von Frauen, alten Menschen, Asylbewerberlnnen, Schwulen, Lesben und so weiter

Veronika Minder, Kellerkino, Bern

Felix Aeppli

Der Schweizer Film ist die Chronik der laufenden Ereignisse in unserem Land. Sei es bewusst, sei es unbewusst, registriert das einheimische Filmschaffen die gesellschaftlichen Veränderungen und spürt den kollektiven Träumen, Wünschen und Ängsten nach. Das macht die Stärke und die Schwäche des Schweizer Films aus: Stärke, weil diese Aufgabe kein anderes einheimisches Medium (und schon gar nicht der marktbeherrschende Importfilm nach US-Muster) umfassender und anschaulicher erfüllen kann; Schwäche, weil viele Filmschaffende im Bestreben, ihrerseits auf die dargestellten Verhältnisse zurückzuwirken, das Eigenleben des Mediums Film missachten. Diese Widersprüchlichkeit erklärt mein häufig zwiespältiges Filmerlebnis, gleichsam meine Hassliebe dem Objekt der Begierde gegenüber, wobei ich mir im Einzelfall redlich Mühe gebe herauszufinden, ob ich mich über den dargestellten Sachverhalt an sich oder über die Art der Darstellung aufrege ...

Felix Aeppli, Filmhistoriker, Zürich

Pius Morger

Eine Filmvorführung

Habe eine schlaflose Nacht. Es denkt mit mir. Von hundert rückw.rts zählen und dabei die Hand schreiben lassen? Umgehe so meine innere Zensur. Meine neue Methode. Kommt hervor, was nicht hervorkommen darf. 99, 98, 97 ... Erinnere mich an eine Schreckensminute. 96, 95 ... An eine Filmvorführung. Das Publikum hat sich in seiner ganzen Breite im Kinosaal verteilt. Sehe einen schönen Liebesfilm. Die Story: ungewöhnlich - verhängnisvoll ... Allmählich nimmt Film eigenartige Formen an. Sehe Flecken noch. Schöne, farbige Flecken, die sich virtuos verschieben. Tranceartig. Ganz aussergewöhnlich für einen Film mit Schauspiel, einer bewegten Geschichte und schimmernd glänzende Bilder. Bald wird es Tumult geben im Saal. Publikum will den Duft des Frühlings und das Kitzeln im Bauch von Schmetterlingsflügeln nicht nehmen lassen. Herbei mit den

Gefühlen! Denkt es mit mir. Aber es kommt kühner. 81, 80, 79 ... Es ist anstrengend, rückwärts zu zählen und Händchen schreiben lassen. Die Farbflecken sind weg. Nur noch weisses, schwaches Flackern der Projektionslampe. Und der Ton? Auch der hat heute frühzeitig den Geist aufgegeben. Vertrautes Geräusch des Projektors bleibt. Mir gefällt der Film, aber jetzt, spätestens jetzt muss das Publikum die Kinokasse stürmen. Denkt es mit mir. Wieder falsch. Der Film läuft, das Publikum bleibt gebannt. Aussergewöhnlich. Sehr aussergewöhnlieh. Was kommt jetzt noch? Die weisse Leinwand blendet mich. Ich wache auf. Der Nacht eine Stunde Schlaf abgerungen, aber die Müdigkeit hat sich nicht gelegt. Den Kopf unter den Wasserhahn oder ein wenig Musik hören? Ich bleibe matt liegen. 66, 65 ... 61. Hör mit dem Zählen auf. Zu anstrengend. Ich bin wach. Kopf doch unter Wasser gehalten.

Die Fachsprache der Filmleute ist nicht gerade die feinste. Wo gehobelt wird, fliegen Späne. So wird gerne von «Schuss» und «Gegenschuss» gesprochen, von «Gestorben», wenn eine Szene abgedreht ist. Wer Filme macht, scheint viele Berufe auszuüben. Zum Beispiel den des Scharfrichters. Einern Schauspieler oder einer Schauspielerin kann vergnüglich «Cut!» zugerufen werden, und er oder sie erlebt darauf hin tatsächlich einen kleinen Künstlertod. Der Aufhänger ist nicht etwa der Gehilfe des Scharfrichters, obwohl ohne Aufhänger es den anderen nicht gäbe. Der Aufhänger ist das Benzin für ein Motörchen. Dieses kleine Motörchen wiederum bringt, so Gott will, einen ganzen Maschinenpark in Bewegung. Eine kleine, neue Welt kann entstehen. Das Wort «Fressen» ist auch wichtig, wenn Filmleute untereinander sind. Frisst das breite Publikum den Film oder frisst es ihn nicht. Auch da ein ganz allgemein zugänglicher Begriff, der sicher noch andere Leute tagtäglich beschäftigt. Zugegeben. Auch mich beschäftigt er gerade auch. Wegen dieser seltsamen Filmvorführung in meinem Traum. Es gibt sie ja, diese Filme, die direkt über das Auge in die Seele eindringen. Der Zustand des Menschen ist dann eben wie beseelt. Seine Blicke sind entrückt, und wenn die Leute vom dunklen Kinosaal wieder an das Tageslicht kommen, sind alle ein bisschen verrückt. Es ist der Zustand des Wieder-wach-Werdens. Plötzlich die Welt für kurze Zeit mit Kinderaugen betrachten. Also, denkt es mit mir, dieser eben gesehene Film ist für das breite Publikum doch ganz und gar langweilig. Sie werden alle beschlagene und trübe Seelenfensterchen haben. Aber beim Hinausgehen – jetzt die oben erwähnte Schreckensminute: Rings um mich zufriedene Münder, strahlende Augen! Ein Alptraum! Ich rätsle lange über meine fatale Fehleinschätzung. Habe ich im selben Kino, zur selben Zeit, einen ganz anderen Film gesehen? Eben gedanklich eine heisse Spur entdeckt. Jetzt schreit mir ein Wichtigtuer, den ich zuvor noch nie gesehen habe, 10, 9, 8 ins Ohr. Zweimal. So ein Idiot! Aber eine gewisse Sympathie kann ich ihm nicht absprechen. Scheint verwirrt zu sein wie ich. Wende mich von ihm ab und blicke direkt ins Gesicht des Weckers an meinem Bettrand. Dieser sagt mir: «Es ist 6 Uhr 5 Minuten und 4 Sekunden ». Bin beruhigt. Habe diese Nacht durchgeschlafen.

Tage später. Mein Händchenwerk kommt mir wieder in die Finger. Beim Durchlesen entdecke ich trotz meiner Technik, Händchen einfach schreiben lassen, den Satz: «So Gott will». Da hat sich eine Metapher eingeschlichen. Denn der Vergleich mit Gott stammt wohl eher aus der Zeit von Papas Kino, als die Bilder laufen lernten und es meistens an einem einzigen Menschen hing, ob ein Film zustande kam oder nicht. Heute sind ja an die Stellen dieser Patriarchen verschiedenste Gremien getreten, die über Sein oder Nichtsein von kleinen Welten entscheiden. Dort geht es zuweilen olympisch zu und her. Sie streiten sehr oft miteinander. Das liegt durchwegs in der Natur D: Gerard Depardieu, Lawrence Ivutsliah, Jean-Louis Loca, François Gennond, Anny Romand, Roland Blanche, Marc Betton, Gilbert lsnard, Monique Couiourier; P: Vega Film, Les Films AlninSarde der Sache. Das aussergewöhnliche dabei ist aber nur, dass sich auch diese Epoche ihrem Ende neigt. Die grosse Zeit ihres Wirkens scheint endgültig vorbei zu sein. Was wird kommen? Wenn es beim Film umgekehrt ist als in der Kulturgeschichte, wo erst nach der griechischen Götterwelt sich die Eingottkultur durchgesetzt hat, dann werden wir uns bald einmal im vielversprechenden vorolympischen Zeitalter der Muttergöttin wiederfinden.

Pius Morger, Zürich

(Titelbild: Reisender Krieger)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/1995 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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