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Marc wehrlin 4

Nur ja keine Visionen

Von den vielen Diskussionen um den Schweizer Film, deren ich überdrüssig bin, ist mir die Diskussion am meisten zuwider, die sich mit Verbissenheit der Frage widmet, wie der Schweizer Film der Zukunft aussehen soll.

Text: Marc Wehrlin / 01. Juli 1995

Von den vielen Diskussionen um den Schweizer Film, deren ich überdrüssig bin, ist mir die Diskussion am meisten zuwider, die sich mit Verbissenheit der Frage widmet, wie der Schweizer Film der Zukunft aussehen soll. Keine andere Diskussion kann es an Überflüssigkeit – oder heisst es Überfluss? – mit dieser aufnehmen.

Braucht der Schweizer Film mehr Abenteuergeschichten? Muss er zum «grossen» Kinofilm werden, wobei ich das «gross» wie seinerzeit die «DDR» in Anführungszeichen setze? Liegt sein Heil in der heimatkritischen ische? Oder müssten lediglich die Beziehungskisten besser gezimmert oder die Trips ins Ego zügiger gefahren werden? Findet der Schweizer Film seine Geschichten in den globalen Themen oder im Sensegraben?

Ich weiss nicht, ob ich mit den andern Kulturdiskussionen zu wenig vertraut bin oder sie aus meinem Gedächtnis schlicht ausblende. Ich mag mich nicht erinnern, von Debatten gelesen zu haben, ob die Schweizer Dichterinnen und Dichter künftig dicke oder dünne Bücher schreiben sollen und welches Literaturgenre unserem Land angepasst wäre. Ähnliche Diskussionen vermisse ich – oder eben nicht – auch in den andern Kulturbereichen.

Wie der Schweizer Film in der Zukunft aussehen soll? Dieser Diskurs muss denen vorbehalten bleiben, die den Film gestalten wollen. Filmemacherinnen und Filmemacher, ihre kreativen, organisatorischen oder finanziellen Gehilfinnen und Gehilfen (man nennt sie in der Regel Produzentinnen oder Produzenten): sie müssen eine klare Vorstellung haben, in welche Richtung sie dieses Kulturmedium entwickeln wollen.

Visionen sind das Vorrecht der Schaffenden. Sie allenfalls sind in der Lage, sie legitim zu verwirklichen. Diese Verantwortung wollen wir ihnen nicht abnehmen. Visionen eines Kulturbeamten, falls umgesetzt: selbst der Schweizer Film würde diese Anmassung nicht überleben.

Die Kulturverwalter müssen zufrieden sein, wenn sie merken, was sich aus der kreativen Ecke heraus entwickelt. Nicht wir zeichnen die Richtung vor. Wir haben schon Glück, wenn wir sie erkennen und der Entwicklung nicht Steine in den Weg legen. Ganz selten wird es uns gelingen, das «Richtige» zu fördern. Die Anführungszeichen sind wiederum absichtlich. Die Qualifikation bleibt subjektiv und den Zeitläufen unterworfen.

Selbst das Publikum fällt einen höchst provisorischen Entscheid, obwohl, und davon bin ich überzeugt, einen äusserst wichtigen. Kultur ist Kommunikation; kommt letzte nicht zustande, bleibt erste auf der Strecke. Allerdings muss das Publikum überhaupt eine Chance haben, sich entscheiden zu können. Anderswo heisst dies Marktzugang.

Das Utopische hiesse: Die Filmschaffenden dieses Landes, ob einheimisch oder nicht, sind mit ihren Werken in allen Medien signifikant präsent. Das bedeutet nicht bloss die Sicherung des Reduits Kino oder der Voralpen TV, sondern die Eroberung des industrialisierten Flachlandes der mehr oder weniger neuen Medien, wie Video-on-Demand, Multimedia oder wie die neuen Glücksbringer heissen.

Wenn eine helvetische Kulturpolitik dazu beitragen könnte, wäre schon viel gewonnen. Mit welchen Filmen? Stellen Sie diese Frage nie mir. Aber bitte machen Sie die richtigen Filme.

Marc Wehrlin, Chef Sektion Film des Bundesamtes für Kultur

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/1995 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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