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Produktive Irritationen

«Kunscht isch gäng es Risiko» – dieses Lied von Mani Matter wird in Imbachs aktuellem Kinofilm I Was a Swiss Banker angestimmt, und es ist in diesem Zusammenhang ein besonders passendes Zitat: Imbachs bisherige Filme zeichnen sich durch wagemutige Experimente aus.

Text: René Müller / 01. Aug. 2007

Die Filme des Schweizer Filmemachers Thomas Imbach verunsichern. Konventionelle filmische Formen interessieren ihn nicht. «Kunscht isch gäng es Risiko» – dieses Lied von Mani Matter wird in Imbachs aktuellem Kinofilm I Was a Swiss Banker angestimmt, und es ist in diesem Zusammenhang ein besonders passendes Zitat: Imbachs bisherige Filme zeichnen sich durch wagemutige Experimente aus. Der Autodidakt foutiert sich um traditionelle Arbeitsweisen, kombiniert traditionelles Kinohandwerk mit neuen Technologien und experimentiert sowohl mit Laiendarstellern als auch mit renommierten Bühnenschauspielern. Seine Arbeiten reflektieren die Funktionsweisen des Kinos und flirten mit dem Zeitgeist. Sie irritieren und ermöglichen dadurch Kino-Erfahrungen für Kopf und Körper.

i was a swiss banker zeichnet sich durch einen kuriosen Genre-Mix aus. Ein Märchen, das wie ein Krimi beginnt und sich zu einem frivolen Reise- und Heimatfilm mit internationalem Touch entwickelt: Der joviale Banker Roger finanziert sich seinen schmucken Lebenswandel mit dem Schmuggel von Schwarzgeld. Doch eines Tages wird er an der Grenze kontrolliert. Flugs gibt er Vollgas und rast davon. Auf der Flucht vor der Polizei springt der Geschäftsmann in den Bodensee und landet in einer märchenhaften Welt. Auf einer Insel gestrandet trifft er auf eine eigenartige Frau. Das Zwitterwesen aus Vogel und Hexe schliesst eine amouröse Wette mit ihm ab: Wenn es ihm nicht gelingt, sich zu verlieben, bleibt er in ihrem erotischen Bann. Während einer fabelhaften Tour de Suisse begegnet der flüchtige Banker alsdann verschiedenen Frauen – so richtig funken will es aber nicht. Imbach braucht keine pompösen Dekors, um eine märchenhafte Stimmung zu zaubern. Er arbeitet mit bescheidenen Mitteln. Landschaftsaufnahmen spielen dabei eine entscheidende Rolle: Glitzernde Schweizer Seen und eine betörende Tonspur schaffen ein entsprechend entrücktes Ambiente. Die Schweiz als Märchenland, dieses Klischee mag im indischen Bollywood-Kino, in dem die Schweiz gerne als Kulisse für kitschige Liebesträume gewählt wird, seinen Platz haben. Doch in einem Film von Thomas Imbach, der mit seinen Filmen stets am Puls gesellschaftlicher Wirklichkeiten arbeitet?

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(Bild: I was a Swiss Banker)

In Imbachs Märchen-Schweiz herrscht narrative Narrenfreiheit. Alles könnte passieren und doch passiert – abgesehen von ein paar leichtfüssigen Liebeleien – eigentlich nicht viel. Innerhalb Imbachs bisherigem Schaffen stellt dieser Film einen Wendepunkt dar. Der Filmemacher setzt erstmals pointiert auf Sprache: Die Gedanken der Hauptfigur werden durch eine dominante bündnerische Voice over verdeutlicht. Neben Schweizerdeutsch hört man in I Was a Swiss Banker aber auch Englisch, Dänisch, Schwedisch, Rätoromanisch und Türkisch – die globalisierte Schweiz eben, und diese wiederum ist kein Märchen. So sprunghaft wie die Sprachen gewechselt werden, so sprunghaft entwickelt sich auch die unbestimmbare Story. Zu guter letzt jedenfalls findet der geläuterte Roger im fernen Genève zu seiner Meerjungfrau und in der Arbeit als Bademeister seine berufliche Erfüllung. Und man ist versucht anzufügen: Wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

Zwanzig Jahre vor I Was a Swiss Banker realisiert Thomas Imbach mit Schlachtzeichen, einer Mischung aus Politsatire und inszeniertem Dokumentarfilm, seinen ersten abendfüllenden Film. Der anlässlich des 600-Jahre-Jubiläums der Sempacher Schlacht produzierte Essayfilm ist in vielerlei Hinsicht Fingerübung. Zugespitzt montierte Beobachtungen der biederen Jubiläumsfeierlichkeiten – militärische Festfreude, freudiger Militarismus – und vom Filmemacher inszenierte Szenen mit Soldatenübungen verweisen aber bereits auf formale wie inhaltliche Konstanten im Schaffen Imbachs. Für Aufsehen sorgt Imbach drei Jahre später mit dem ebenfalls auf 16mm gedrehten experimentellen Spielfilm Restlessness. Rasante visuelle Erkundungen auf Zugfahrten zwischen Bern, Basel und Zürich sind da zu sehen, dazwischen schneidet Imbach Bruchstücke aus dem schnelllebigen, vereinzelten Dasein dreier Menschen in der urbanen Schweiz. Die fragmentierte Erzählweise verwirrt, die Orientierung in diesem visuellen Strudel ist nicht einfach – doch gerade durch diese filmische Form vermag Restlessness, das Lebensgefühl und die gesellschaftliche Befindlichkeit jener Zeit einzufangen.

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(Bild: Happy Too)

Danke, schöne Tag.» «Danke, ade, merci.» «Danke, ade, merci.» «Danke, schöne Tag, merci.» … – Gegen dreissig Mal reiht Imbach Variationen derselben Situation aneinander: Eine adrette Sachbearbeiterin leiert ihre Abschiedsfloskel ins Telefon und knallt sogleich den Hörer auf die Gabel. In den Grossaufnahmen werden mimische Details der jungen Frau sichtbar; bald rümpft sie die Nase, bald verdreht sie genervt die Augen. Ihr Mienenspiel steht in frappantem Gegensatz zum artigen Umgangston. Am Schluss dieser stakkatohaften Szenen sehen wir, wie die Frau von ihrem Arbeitsplatz aufsteht und sich beim Verlassen des Büros mit der gleichen gefälligen Telefonstimme geradezu roboterhaft von ihren Arbeitskollegen verabschiedet. Diese Sequenz kommt ganz ohne Kommentar aus, sie funktioniert rein visuell. In well done, seinem dritten Film, erforscht Thomas Imbach den Alltag in einem Dienstleistungsbetrieb zu Beginn der neunziger Jahre. well done markiert den Beginn der Zusammenarbeit mit dem Kameramann Jürg Hassler. Hassler, der mit der Dokumentation Krawall (1970) bekannt wurde, prägt Imbachs Filme bis heute als Kameramann, Co-Cutter oder Co-Regisseur entscheidend mit. Für Well Done drehen Imbach und Hassler ungefähr 75 Stunden Material, das sie auf 75 Minuten zusammenschneiden. Dank der zu jener Zeit lancierten Hi-8-Handycam, einer kleinen und günstigen Videokamera, können Imbach und Hassler überhaupt so viel Material aufnehmen. Mit einer herkömmlichen Ausrüstung wäre eine solch zeitintensive dokumentarische Arbeitsweise gar nicht finanzierbar gewesen. Hautnah nähert sich die kleine Kamera den Büromenschen, sie funktioniert – wie Imbach selbst sagt – als «Sonde». Hassler und Imbach loten die Möglichkeiten der neuen Technologie aus und erzeugen dabei sehr intime, aber auch verfremdete Bildwelten. Gleichzeitig experimentieren sie mit einer 35mm-Kamera. Die so entstandene Fülle an Aufnahmen zu einem Film zu montieren, ist Geschenk und Crux zugleich. Eine streng kausal-logische Montage ist jedenfalls kaum mehr durchführbar. Imbach betont denn auch, dass der Schnitt für ihn ein neues Abenteuer, eine Neuerfindung des Stoffes sei. Die computergesteuerte und hektische Arbeitswelt stellt er mit furiosen Schnittfolgen dar: Ungewohnte Detailaufnahmen von Augen, Telefonkabeln und Computerbildschirmen blitzen mechanisch über die Leinwand. Mit der seriellen Montage bricht er die Kontinuität des Filmmaterials auf und ordnet es neu – teilweise sogar nach einem Zufallsprinzip. Die Kombination von schnell geschnittenem Videomaterial mit statischen 35mm-Aufnahmen wird ein formales Kennzeichen von Imbachs Filmschaffen.

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(Bild: I Was a Swiss Banker)

In der traditionsbewussten Schweizer Dokumentarfilmszene stösst Imbachs nonchalante Filmarbeit nicht immer auf Gegenliebe. Seine Filme unterscheiden sich auf provokative Art vom sozialkritisch engagierten Schweizer Dokumentarfilm und stehen überhaupt solitär in der hiesigen Filmlandschaft. In Ghetto, einer ausladenden und herausfordernden Studie über junge Menschen am Übergang zum Erwachsenenleben, zahlt Thomas Imbach den Protagonisten, jungen Teenagern aus einer reichen Zürcher Vorortsgemeinde, vor laufender Kamera eine Gage für die Arbeit des «sich selbst Spielens». Mag dies auch als Affront angesehen werden, kann man der Geste angesichts der heutigen Omnipräsenz von Reality-TV-Formaten eine vorausblickend kulturkritische Bedeutung nicht abstreiten. Für Ghetto verbringen Imbach und sein kleines Team sehr viel Zeit mit den jungen Leuten. Zwischen dem Filmteam und den Figuren entwickelt sich dadurch eine Komplizenschaft. Das Vertrauensverhältnis lässt eine erstaunliche Vielfalt an intimen Szenen entstehen. Immer wieder sprechen die jungen Leute den Filmemacher hinter der Kamera an. Wie sich die Hierarchie zwischen Filmenden und Gefilmten genau gestaltet, bleibt jedoch unklar – hautnah an den Pickelgesichtern und doch so fern.

Durch die finanzielle Unterstützung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) können Imbach und Hassler 1998 erstmals gänzlich mit 35mm-Material arbeiten. Sie realisieren Nano Babies, einen Film über den Alltag von Kindern in der Krippe der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Obwohl es sich um eine Auftragsproduktion für das Fernsehen handelt, hält sich Imbach einzig an die vorgegebenen 45 Minuten, die konventionelle Laufzeit eines Fernseh-Dokumentarfilms. Es dürfte also kaum überraschen, dass das Resultat bei den SRG-Verantwortlichen zwiespältige Reaktionen auslöst. Nach der ersten Visionierung legen sie den Filmemachern nahe, eine erklärende Kommentarstimme über die Bilder zu legen, was Imbach und Hassler vehement ablehnen.

Wir sehen, wie die Kinder spielen, staunen, essen, singen, weinen. Imbach und Hassler lassen sich konsequent auf die Erlebniswelt der Kinder ein; formal wird dies durch die stets sehr tief gehaltene Kameraposition, die der Perspektive der Knirpse entspricht, deutlich. Imbach beobachtet den Umgang der Erwachsenen mit den Kindern (oder umgekehrt) kommentarlos und verzichtet konsequent auf Interviews. So erscheinen die Kindergärtnerinnen jeweils nur flüchtig im Bild. Selbst die Eltern bleiben «fremde Riesen». Wie ein Teil der Sprösslinge die Eltern in ihren Büros und Labors der renommierten Hochschule besucht, sind die Eltern lediglich in Form von Händen und kommentierenden Stimmen präsent. Allein schon durch diese Perspektive wirken ihre Versuche, den Nachwuchs unter Kontrolle zu halten, ziemlich unbeholfen.

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(Bild: Happiness Is a Warm Gun)

Mitunter wird das Filmteam von den Kindern als Eindringling wahrgenommen und als solcher auch angesprochen. Das extrovertierte Mädchen Fränzi entwickelt sich durch seine kommunikationsfreudige Art zu einer Hauptfigur von Nano Babies. Es weist das Filmteam energisch darauf hin, dass es nicht dulde, wenn «in seinem Haus» gefilmt werde. In einer Szene freuen sich die Kinder darauf, ein Schloss zu bauen. Das besagte «Schloss» besteht freilich nur aus Karton. In einer bunt angemalten Schachtel versteckt sich ein Junge, der die ausgeschnittenen Fensterchen behutsam, aber bestimmt schliesst. Die Kamera kann lediglich die rausschauenden Hände und Augen filmen. Im Zusammenhang mit Fränzis spielerischem Missmut gegenüber dem angeblich aufdringlichen Filmteam nimmt diese Szene das Moment des Versteckspiels auf. In einer späteren Szene zerstampfen die Kinder das Kartonhaus. Vor diese Zerstörungsszenen werden stilisierte Aufnahmen geschnitten, die Abbrucharbeiten auf dem Hochschulareal zeigen. Diese Bilder unterstützen keine klare Argumentation, vielmehr fordern sie zum assoziativen Weiterspinnen des Kinderportraits auf.

Für sein Filmprojekt über das Schicksal der deutschen Politikerin Petra Kelly, die von ihrem Lebenspartner und Mitstreiter Gert Bastian im Schlaf erschossen wurde, arbeitet Imbach zum ersten Mal seit Restlessness wieder mit Schauspielern. Aus diesem Projekt entstehen zwei Filme: Happiness Is a Warm Gun, der Hauptfilm, und Happy Too,  eine Art Making-of-Dokumentation. Die beiden Bühnenschauspieler Linda Olsansky und Herbert Fritsch bekommen vom Filmemacher keine konkreten Spielanweisungen, vielmehr versucht Imbach, sie mit den zu verkörpernden Biographien zu «infizieren»: Sie sollen ihre Rolle derart verinnerlichen, dass sie ständig präsent ist, auch wenn die Kamera nicht filmt.

Happiness Is a Warm Gun spielt grösstenteils im Flughafen Zürich, der von Imbach zu einer Art Transitzone zwischen Leben und Tod stilisiert wird. Der experimentelle Spielfilm umkreist Dynamiken, die zum tödlichen Schuss geführt haben könnten. Eine kriminalistische Analyse der tragisch endenden Amour fou steht dabei aber ebenso wenig im Vordergrund wie eine gesellschaftskritische Deutung (wie dies etwa die Journalistin Alice Schwarzer in einem Buch zu diesem Fall auf polemische Art und Weise getan hat). Mit aufgeschminkter Kopfschusswunde ringt die hyperaktive und verletzliche Petra-Kelly-Figur bald in zärtlicher Umarmung, bald in heftigem Streit mit dem Täter um die Bedeutung ihrer Ermordung. Zudem werden Episoden ihres Lebens rekapituliert, etwa indem sie auf ihre geliebte Grossmutter trifft oder mit Fernsehaufnahmen der «echten» Petra Kelly konfrontiert wird. Der Flughafen Zürich, ein Technoclub, ein Naturlabyrinth, eine fremde Stadt – diese öffentlichen Plätze bilden eine Bühne, eine Spielwiese für die unermüdlichen Aktionen der beiden Hauptfiguren. Der Flughafen als Ort des Transits steht klar im Mittelpunkt von Happiness is a Warm Gun. Imbach hat mit dem Flughafen einen betriebsamen öffentlichen Raum gewählt, was für Dreharbeiten eine Herausforderung darstellt. Das Filmteam nimmt dadurch unberechenbare Situationen in Kauf. Ein solches Prinzip produziert eine Schnittstelle zwischen Kunst und Leben: Die Dreharbeiten sind nicht hermetisch abgeschlossen, das Umfeld kann mitspielen – und sei es nur durch ein gleichgültiges oder gar etwas argwöhnisches Zugucken des Flughafenpersonals während einer Zigarettenpause.

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(Bild: Happy Too)

So artifiziell und – im wahrsten Sinne des Wortes – verkopft die Anlage des Films auch sein mag, entstanden ist ein Werk, das einen körperlich fordert. Wie auf Nadeln sitzend schaut der Betrachter der prekären Handlung zu, die sich jeglicher psychologischer Nachvollziehbarkeit entzieht – und darin der unfassbaren Tat so nahe kommt. Im Verhältnis zwischen Publikum und Film kann es also zu einer Hassliebe wie zwischen Petra Kelly und Gert Bastian kommen. Die redundante Eindringlichkeit, mit der das Projekt die Beziehungskrise des ungleichen Paares auslotet, reizt bedingungslos.

Wann ist das Limit eines Projekts erreicht, das gerade kein «Kaffeepausen-Film» sein will? In Happy Too werden die Entwicklungen beleuchtet, welche die unkonventionelle Arbeitsweise – die ständige Kamerapräsenz, die spärlichen Regieanweisungen – innerhalb des Filmteams auslöst. Wie der Schauspieler Thomas Fritsch während einer Autofahrt vor laufender Kamera einen Übelkeitsanfall erleidet, muss er mit Nachdruck betonen: «Das ist keine Show.» Trotzdem wirkt seine Filmpartnerin nicht auf Anhieb überzeugt vom Ernst der Lage. Bemerkenswert an dieser Szene ist, dass unbeeindruckt weitergefilmt wird. Zwar erkundigt sich der Filmemacher hinter der Kamera etwas verunsichert nach dem Befinden des Schauspielers, doch von der Strategie «alles zu filmen» wird nicht abgelassen. An der Figur des Generals Bastian beziehungsweise des Schauspielers Fritsch kristallisiert sich während der Drehzeit ein erhebliches Konfliktpotential. Sowohl mit seiner Filmpartnerin als auch mit dem Filmemacher entzünden sich mehrere harsche Kontroversen. Zwischen Imbach und Fritsch bricht wiederholt ein Zwist über Sinn und Zweck des Projektes aus; so bemerkt der Schauspieler entnervt: «Du kannst von mir jeden Dreck aufnehmen, ist mir doch Wurst. Ich hab nichts zu verbergen.» Die Differenzen führen so weit, dass Herbert Fritsch die Dreharbeiten abbrechen will. Die permanente Kamerapräsenz erhält in solchen Momenten mitunter eine neue Bedeutung: Wie sich der Streit im Eifer des Gefechts auf eine juristische Ebene verlagert, mahnt der Schauspieler seinen Arbeitgeber, die Aufzeichnung würde belegen, wer im Recht sei, und zeigt mit dem Finger in die Kamera

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(Bild: Lenz)

Noch tiefere Abgründe und unwegsameres Gelände ergründet Imbach mit Lenz, einer freien Adaption von Georg Büchners Fragment «Lenz». Büchners Erzählung zeichnet sich durch die präzise und sprachgewaltige Beschreibung von Wahnvorstellungen aus, damit betrat er zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts literarisches Neuland. Ausser dem Schlusssatz verzichtet Imbach völlig auf Büchners Originaltext; weiss auf schwarz wird der Satz zum Schluss des Films eingeblendet: «So lebte er hin.» Dass Imbachs Lenz voll und ganz gegenwärtig – zum Zeitgenossen – wird, erstaunt nicht. Wie schon bei Happiness Is a Warm Gun engagiert Imbach mit Milan Peschel einen bühnenerfahrenen Schauspieler. Der Imbachsche Lenz ist Filmemacher und von der Sehnsucht nach einem idyllischen Familienleben mit seinem neunjährigen Sohn Noah und seiner Exfrau Natalie getrieben. In der Bergwelt von Zermatt erlebt Lenz das ersehnte Glück kurz. Sein unwirsches und melancholisches Wesen verunmöglicht jedoch eine dauerhafte Versöhnung mit der ehemaligen Gattin. Immer stärker verstrickt sich Lenz in seinen Wahnvorstellungen. Es treibt ihn raus in den Schnee zu den schwarzen Vögelschwärmen und majestätischen Bergen. Auch die Ausgelassenheit einer Après-Ski-Party lenkt Lenz nur kurz von seinem Elend ab: Zum Gassenhauer «I will survive» kullern dem Aussenseiter Tränen über die Wangen – und niemand bemerkt es. Imbachs Lenz ist aber nicht durchwegs düster. Burleske Szenen trotzen der depressiven Stimmung, etwa wenn Lenz mit seinem grossen roten Koffer über schneebedeckte Hänge purzelt. Im Bademantel stolpert er als Aussichtsloser durch die Postkarten-Idylle von Zermatt, schäkert spontan mit Touristen und richtet sich schliesslich in einer Ferienwohnung ein absonderliches Nest ein. Diese komischen Momente verweisen auf den jüngsten Film von Thomas Imbach I Was a Swiss Banker, an dem Imbach parallel zum schweren, literarischen Stoff arbeitete.

Möchte man Imbachs Werk im Sinne einer Zwischenbilanz als eine Entwicklung von Dokumentarfilm-Experimenten hin zu experimentellen Fiktionen beschreiben, würde man die Filme in ein Schema zwängen, dem sie sich konsequent entziehen. So wie das Kritische und Komische, das Eigene und Fremde in allen Filmen vorhandensind, so sind Imbachs Filme immer auch dem Inhalt entsprechende visuelle Erkundungen. Die so entstehenden filmischen Wirklichkeiten beziehen sich irritierenderweise immer besonders stark auf sich selbst. – Und gleichzeitig verweisen sie ganz unmittelbar auf uns.

(Titelbild und letztes Bild: I Was a Swiss Banker)

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2007 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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