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Aussicht auf Verdrängung (Heidi)

In Luigi Comencinis Heidi von 1952 sehnt sich das nach Frankfurt verschleppte Alpenmädchen nach nichts so sehr, wie jene Berglandschaften sehen zu können, denen man es entrissen hat. Doch was das traurige Kind dann von den höchsten Zinnen des Doms aus sieht, ist nur das endlose Panorama der Stadt.

Text: Johannes Binotto / 01. Jan. 2016

In Luigi Comencinis Heidi von 1952 sehnt sich das nach Frankfurt verschleppte Alpenmädchen nach nichts so sehr, wie jene Berglandschaften sehen zu können, denen man es entrissen hat. Vom Frankfurter Dom aus, so überlegt sich Heidi, müssten die Alpen zu erhaschen sein, und so macht es sich eines Tages heimlich auf den Weg durch die Stadt zum Aussichtspunkt. Doch was das traurige Kind dann von den höchsten Zinnen des Doms aus sieht, ist nur das endlose Panorama der Stadt. Und nicht einmal das ist echt. Selbst ein ungeübtes Auge erkennt rasch, dass die Aussicht auf Frankfurt, die der Film uns in dieser Szene präsentiert, nur eine auf Kulissen aufgezogene Fotografie ist. Die freie Sicht auf die Alpen ist nicht nur aufgrund der geografischen Distanz unmöglich, sie ist auch vom fadenscheinigen Illusionismus der Filmtechnik verstellt. Alles falsch. Der schweifende Blick des Films stösst überall nur an Fotowände.

Der Grund, sich in dieser Szene mit blossen Fotografien anstelle einer tatsächlich abgefilmten Aussicht zu begnügen, war freilich kein ästhetischer, sondern ein historischer: Jene Aussicht auf Frankfurt, die sich da angeblich vor Heidi ausbreiten soll, existierte zum Zeitpunkt der Dreharbeiten nicht mehr. Allzu deutlich zeigte zu Beginn der fünfziger Jahre das Stadtbild Frankfurts noch die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs. Doch als Hintergrund einer nostalgischen Alpensehnsucht hätten deutsche Trümmer nur gestört. Das optische Rauschen der jüngeren Geschichte musste ausgefiltert werden. So wie die Sequenz, die Heidi auf dem Weg zum Dom zeigt, in Wahrheit in Basler Gassen gedreht wurde, so wurde auch das ganze deutsche Stadtpanorama im Schweizer Filmstudio fingiert. Überzeugen kann dieser Trick nicht. Genauso wenig wie der in Helvetismen und mit unverkennbarem Akzent sprechende Schweizer Charakterdarsteller Armin Schweizer, der hier den Domwärter geben soll. Filmgeschichtlich eine verblüffende Verkehrung: Waren es in der früheren Hollywoodverfilmung des «Heidi»-Stoffs mit Shirley Temple in der Hauptrolle noch die Alpenszenen, die wegen ihrer schreienden Studiokünstlichkeit auffielen, so stellt für Comencini gerade die Bergwelt kein Problem dar. «Der Film wurde an verschiedenen Orten des Kantons Graubünden gedreht» – so betont es bereits der Vorspann. Die Schweizer Idylle ist intakt und lässt sich bestens filmen. Sich hingegen 1952 ein nicht vom Krieg gezeichnetes Deutschland zu imaginieren, bedarf offenbar grösserer Anstrengung. Und man scheitert dabei.

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Doch steckt gerade in der mangelnden Überzeugungskraft dieser filmischen Imagination eines unversehrten Frankfurts seine verstörende Potenz. Der Blick vom Dom wird zur Szene einer missglückten Verdrängung – medientechnischer Standards ebenso wie geschichtlicher Realitäten. So wie mit den starren Bildtapeten wieder jenes Vorläufermedium der unbeweglichen Fotografie in den Film einbricht, welches das Kino bereits hinter sich gelassen glaubte, so macht sich über den allzu hilflosen Täuschungsversuch genau jene unangenehme Realität der Weltkriegsfolgen spürbar, die man hinter der Fotowand hatte verstecken wollen. Das Trauma des Kriegs entlarvt sich im Akt seines Verbergens. Und so wie sich bei Freud die Wiederkehr des Verdrängten unweigerlich in Form von Fehlleistungen ereignet, so zeigt sie sich auch in Heidi als Defekt, als missglückte Filmtechnik.

Dies alles haben Luigi Comencini und seine Kameramänner Emil Berna und Peter Frischknecht gewiss nicht beabsichtigt. Ändern tut das freilich nichts. Die Entlarvung des Bild gewordenen Verdrängungsprozesses geschieht auch dann, wenn sie nicht von den Filmemachern eigens autorisiert wurde. Der filmische Apparat selbst schreibt die Aussage seiner Bilder um, unabhängig von den Absichten derer, die den Apparat zu beherrschen glauben. So mag diese Szene aus Heidi als Exempel einer technikphilosophischen Filmlektüre dienen, die in filmtechnischen Verfahren nicht mehr blosse Mittel zur Erzählung sieht, sondern eigenmächtige Koautoren am filmischen Text.

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Über die schreienden Rückprojektionen, jene offensichtlich gefälschten Landschaftsaufnahmen im Hintergrund der Flossfahrt von Marilyn Monroe und Robert Mitchum in Otto Premingers River of No Return, hat die Filmtheoretikerin Laura Mulvey geschrieben, sie bringe eine widersprüchliche Temporalität ins Bild. Die visuelle Inkompatibilität zwischen dem von den Schauspielern besetzten Vordergrund und den davon abstechenden flächigen und oftmals grobkörnigen Projektionen im Hintergrund signalisiere auch ein Zusammentreffen unterschiedlicher Zeiten. Oder anders gesagt: Wo Rückprojektionen verwendet werden, geraten Raum und Historie unweigerlich durcheinander. Es ist diese Raum-Zeit-Paradoxie, die uns auch vom gefälschten Frankfurter Panorama entgegenschlägt: Nostalgien des 19. und der Schrecken des 20. Jahrhunderts, Schweizer Idylle und deutsche Trümmer stossen an der dünnen Oberfläche der Fototapete zusammen. Das gefälschte Panorama im Studio ist somit weniger Schutz- als vielmehr Bildschirm, auf dem sich überhaupt erst zeigen lässt, wovon es hätte abschirmen sollen. Umso passender darum, dass im Französischen solch fingierte Hintergrundbilder, wie man sie in Heidi sieht, auch «transparences» genannt werden. Der angebliche Illusionismus der Frankfurter Aussicht macht in Wahrheit nur unentwegt seine eigenen Verbergungsversuche transparent. Der Trick ist durchsichtig – buchstäblich.

Das Prinzip einer gerade in ihrer Künstlichkeit sich selbst denunzierenden Bildwelt folgt dabei jener paradoxen Wendung, wie sie Adorno ganz allgemein der Kulturindustrie zugute hält: «So gerät selbst die Ideologie der Kulturindustrie in sich so antagonistisch wie die Gesellschaft, auf die sie es abgesehen hat. Sie enthält das Gegengift ihrer eigenen Lüge.» Der Essay, aus dem das Zitat stammt, heisst übrigens «Filmtransparente». Das passt. Da sind sie also wieder, die «transparences» des Kinos. Heidis Aussicht vom Frankfurter Dom enthält das Gegengift ihrer eigenen Lüge.

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Ein etwas voreiliger Journalist der «Westdeutschen Allgemeinen» hatte vor Filmstart noch behauptet, Comencinis Film werde die Spyri-Geschichte in die Gegenwart übertragen und so aus dem scheinbaren Heimatfilm einen eigentlichen Trümmerfilm machen. Obwohl offenbar falschen Informationen aufgesessen, hat der Rezensent am Ende irgendwie doch recht behalten. Heidi ist, zumindest in der Szene auf dem Frankfurter Dom, auch das. Mag der Film auf der Ebene der Erzählung noch so reaktionär und verharmlosend daherkommen, in seiner Machart liefert er die Demontage seiner eigenen Ideologie bereits mit, unfreiwilligerweise. Es ist von einer besonderen Ironie, dass ausgerechnet der alte Heidi-Film bereits schon die Dekonstruktion jener Werte praktiziert, gegen die die nächste Generation Schweizer Regisseure glaubte opponieren zu müssen. Der nostalgische Schweizer Film war immer schon ein revisionistischer, auch wenn seine Macher das gar nicht wussten. Die Verdrängung, die man ihm später glaubte vorwerfen zu müssen, hatte Papas Kino, ohne sich darüber im Klaren zu sein, immer schon in den Blick genommen, als Aussicht.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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