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Die verlorenen Farben des frühen Films

Im kollektiven ­Gedächtnis hat sich der frühe Film in Schwarzweiss festgesetzt. Dabei war Film schon immer farbig. Seine ­Farbenpracht wird nun schon seit Jahrzehnten in den Archiven wieder­entdeckt und seit kurzem auch digital rekon­struiert. Dies dient nicht nur ­der Erhaltung, sondern auch der Sichtbar­keit der poetisch-­subtilen bis explosiven ­frühen Filmfarben.

Text: Barbara Flückiger / 25. Apr. 2016

Filmfarben sind faszinierend, aber in Forschung und Filmkritik bisher wenig beachtet. Ihre Erforschung wird zunehmend wichtiger, denn analoge Filme müssen nun digitalisiert werden. Noch schlummern diese farbigen Filmpreziosen in den gekühlten und klimatisierten Lagern der Archive im Dunkeln vor sich hin, nur ein Bruchteil ist digital erschlossen und wird so wieder sichtbar, meist an Festivals für Archivfilme oder in wenigen auf historische Filme spezialisierten kommunalen Kinos.

Im kollektiven Gedächtnis ist der frühe Film in Schwarzweiss abgespeichert, weil die meisten bisher ohne die ihnen ursprünglich zugedachte Farbe zirkulieren. Selbst in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte wird gemeinhin erst die Konferenz der Fédération internationale des Archives du Film (FIAF) in Brighton von 1978 als Wende bezeichnet. Zum ersten Mal, so dieses Narrativ, schien damals ein Bewusstsein für die Farben des frühen Films zu erwachen. Natürlich ist diese Erzählung eine Verkürzung, denn Archivare wussten sehr wohl, dass sich in ihren Beständen eine Vielzahl von Farbfilmen aus der Frühzeit befanden. Nur liessen sich diese Filme im Kino nicht mehr zeigen, weil das Trägermaterial aus feuergefährlichem Zellulosenitrat bestand. Ab den späten vierziger, frühen fünfziger Jahren wurden Nitrofilme zunehmend zwar auf Safety-Material umkopiert, aber eben in Schwarzweiss, denn die Ausgangsmaterialien, die Kameranegative, waren in den meisten Fällen farblos. Schockierenderweise hat man dabei oftmals die frühen Negative und Kopien vernichtet – aber davon später mehr, denn diese Praxis dauert bis heute an und verdient unsere Aufmerksamkeit.

Die Geschichte des Farbfilms beginnt schon vor der Erfindung des Films, denn tatsächlich haben frühe Farbfilmverfahren ihre Wurzeln in der Farbfotografie des 19. Jahrhunderts. Schon 1861 hatte James Clerk Maxwell gezeigt, dass sich das Farbenspektrum bei der Aufnahme mittels Filtern zerlegen und in Form von schwarzweissen Auszügen auf herkömmlichen fotografischen Platten speichern lässt, die man bei der Projektion wieder zu einem Farbeindruck zusammenfügen kann, wenn man sie einfärbt oder durch farbige Filter projiziert. Seither ist dieses Grundprinzip um viele Spielformen erweitert worden.

Für die weitere Darstellung ist es hilfreich, ein paar systematische Unterscheidungen einzuführen, die die Vielzahl der Farbverfahren typologisch einordnen und das Verständnis erleichtern. Allerdings, das lässt sich nicht vermeiden, erfordern diese Ordnungssysteme doch ein gewisses technisches Interesse und Verständnis.

Zunächst muss man unterscheiden zwischen applizierten und mimetischen Verfahren. Applizierte Verfahren zeichnen sich dadurch aus, dass jede einzelne Kopie eingefärbt wird, entweder durch Farbbäder oder durch Hand- und Schablonenkolorierung.

Mimetische Verfahren sind dagegen so konzipiert, dass ein technischer Workflow das Spektrum der sichtbaren Farben in Filmfarben übersetzt. Im Anschluss an Clerk Maxwells Experiment lässt sich anfügen, dass alle mimetischen Verfahren auf der Zerlegung des Spektrums in zwei oder drei, selten vier Farben beruhen, bis heute, das heisst auch in digitalen Techniken.

Handkolorierung: Tanz der Farben

In Métamorphoses du papillon wandelt sich eine Raupe zum tanzenden Schmetterling, Beginning of the Serpentine zeigt einen Serpentinentanz, junge Pariserinnen tanzen in Les Parisiennes: Es ist nicht überraschend, dass Tanz ein wiederkehrendes Motiv des handkolorierten Films der Frühzeit bildet. Bewegung als konstituierendes Merkmal des Films, das Publikum und Theorie gleichermassen faszinierte, erschien in Verbindung mit Farbe in einer neuen Qualität. Handkolorierungen unterstreichen mit ihren weichen Farbverläufen und ihrem fliessenden und changierenden Farbauftrag den Bewegungseindruck massgeblich, denn von Bild zu Bild entwickelt sich wegen der Schwankungen eine Pseudobewegung in den Farbflächen. Auf jedes dieser Bilder haben Arbeiterinnen in Kolorierateliers mit winzigen Pinseln dünne Schichten von Farbe aufgetragen, auf die hellen Stellen des Bilds, also da, wo sich die Lichter befinden, 16 bis 18 Bilder pro Sekunde Film.

Farbe, Bewegung und Licht verbinden sich zu einem multimodalen Erleben, das visuelle mit kinästhetischen Eindrücken verbindet. Ornamentale und statische Bühnenelemente kontrastieren mit den weichen plastischen Körpern in Bewegung, wie Jelena Rakin in ihrem Aufsatz «Bunte Körper in Schwarzweiss» (in Montage AV 20/2/2011) schlüssig herausarbeitet. Durch die frontale, symmetrische Bildanordnung wirken die schwarzweissen Rahmungen wie Bilderbogen, aus denen die Figuren hervortreten, sehr schön sichtbar in Beginning of the Serpentine. Der tiefschwarze Hintergrund – von einer Schwärze, die sich mit heutigem Filmmaterial wegen der dünneren Emulsionen und dem geringeren Silbergehalt überhaupt nicht mehr erreichen lässt – bildet einen perfekten Kontrast zu den Farbflächen, die sich wunderschön vom unbunten Hintergrund abheben. In «Farbspannung im kolorierten Stummfilm» (gleichenorts) beschreibt Christine N. Brinckmann nachvollziehbar das rare und seltsame Flair, das diese frühen Kolorierungen auf den heutigen Betrachter ausübt.

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Was Farbe im frühen Film bedeuten kann: ein Attraktionsmoment assoziiert mit Weiblichkeit, Exotik und Erotik. In seinen Betrachtungen zu Métamorphoses du papillon betont Joshua Yumibe diese Zuschreibung von haptischer Dreidimensionalität zur erotisierenden Darstellung des weiblichen Körpers. Gleichzeitig neutralisiert der unbunte Rahmen den lokalen Überschuss an Farbe und zähmt ihn auf ein dem erlesenen Zeitgeschmack entsprechendes Mass zurück. Die Bedeutung einer geschmackvollen, restriktiven Verwendung von Farbe wurde bis in die fünfziger Jahre immer wieder als normativer Rahmen definiert, um Farbexzesse einzudämmen. 1930 schrieb Gustav Brock, dass der Vorteil der Handkolorierung darin zu finden sei, dass sie die Schönheit des Schwarzweissbilds nicht störe. Es sind einzelne, klar umrissene Flächen, in denen sich die Farbexplosionen entfalten.

Natürlich finden sich im handkolorierten Film auch andere Farbästhetiken, so in einer der wahrscheinlich wenigen kolorierten Kopien des berühmten Animationsfilms Little Nemo von Winsor McKay. Sie befindet sich in der Sammlung des Museum of Modern Art. Mit seinem reduzierten Zeichenstil, der Figuren und Objekten einfache Konturen zuweist, bezieht sich der Film zwar auf die Cartoons, denen der kleine Nemo seine Entstehung verdankt. Aber sowohl durch den selbstreferenziellen Hinweis auf die Hand des Zeichners, der die Figuren hervorbringt, wie auch durch den poetischen Stil haftet dem Film eine modernistische Aura an, die der Zeit weit voraus erscheint. 1911 jedenfalls würde man einen solchen Stil nicht vermuten. Höhepunkt des Films ist eine Explosion, die nur drei Bilder dauert, aber umso fulminanter wirkt. Rot-Orange-Gelb-Töne vermischen sich in differenzierten Stufen zu einer grossartigen Explosionswolke, die bildfüllend die reduzierte Ästhetik verdrängt und für einen sensationellen Moment sorgt.

Schablonenkolorierung: organisches Ganzes

Früh schon bekam die Handkolorierung Konkurrenz von der Schablonenkolorierung. Es versteht sich von selbst, dass das bildweise und daher ungemein aufwendige Bemalen von Filmen nicht für die Massenproduktion geeignet war. Deshalb ging man früh dazu über, eine mechanisierte Methode zu entwickeln. Für die Schablonenkolorierung schnitt man aus Kopien mit einem Skalpell Konturen aus, durch die sich die Farben dann Schritt für Schritt auf das zu färbende Positiv auftragen liessen, beispielsweise mithilfe eines farbgetränkten Samtbands. In der Innendekoration, aber auch in Graffiti ist Schablonenmalerei bis heute üblich. Nicht anders muss man sich die Technik für den Film vorstellen.

Coe stencil process

Reiseberichte, historische Dramen, phantastische Geschichten, ornamentale Top-Shots, exotische Schauplätze, Modeschauen und Innenarchitektur: Den Anwendungsgebieten der Schablonenkolorierung scheinen kaum Grenzen gesetzt zu sein, dies auch wegen ihrer zeitlich und räumlich viel grösseren Verbreitung. Führend in der Produktion war die französische Firma Pathé, gefolgt von Gaumont, ebenfalls aus Frankreich, wobei sich die Stile deutlich unterscheiden. Pathé hatte ein breites Spektrum an Themen mit jeweils passenden Farbschemen, während Gaumont vor allem für seine historischen Dramen von grosser Opulenz bekannt war.

Dieser Text bietet weder den Platz noch erhebt er den Anspruch, die Vielfalt von schablonenkolorierten Filmen auch nur annähernd abzubilden. Vielmehr geht es im Folgenden darum, deren Faszinosum exemplarisch zu ergründen.

Eine ornamentale Linie, die an die handkolorierten Filme anknüpft, findet sich in La fée aux fleurs (F 1905) oder in §La danse du diable (F 1904, Gaston Velle) sowie in den vielen Filmen, die Segundo de Chomón gestaltet hat: Les Kiriki, Acrobates japonais oder Les chrysanthèmes. De Chomón galt als Pionier der Schablonenkolorierung und hat einen eigenen Stil entwickelt, der einen exotisch anmutenden ornamentalen Exzess mit einer strengen grafischen Bildkomposition in der Fläche verbindet. De Chomóns Werk ist noch wenig erforscht, Minguet Batllori beschreibt es als eine Verschränkung von Zirkus und Trickfilm mit phantastischen Elementen. Die burlesken Einlagen sind deutlich und äussern sich oftmals in ungewöhnlichen Perspektiven.

Dazu gehören Anordnungen von Bild im Bild, mit Schichtungen und Tableaux vivants. Im Unterschied zur strengen Teilung von Farb- und Schwarzweissflächen in den handkolorierten Beispielen zeichnen sich die schablonenkolorierten Filme durch strukturierte Graustufen aus, die sich mit dem Farbauftrag verbinden. In Handbüchern der Zeit wird daher auch empfohlen, die Kopien mit flachen Kontrasten zu entwickeln, damit die Transluzenz der Farben mit dem Silberbild ein organisch wirkendes Ganzes erzeugt. Nicht immer sind alle Flächen koloriert, aber doch sehr oft und vor allem in späteren Filmen der zwanziger Jahre fast durchgängig.

Multiplizierte Attraktion

Schon in frühen Filmen finden sich Kombinationen von Schablonenkolorierung mit Virage oder Tonung, das heisst mit monochromer Einfärbung des Filmstreifens. Virage durchdringt den gesamten Film mit Farbe, als Resultat des Eintauchens in ein Farbbad, sichtbar an den hellen Stellen des Bilds und im Perforationsbereich. Die Tonung erfordert einen chemischen Prozess, bei dem Silber durch eine farbige metallische Verbindung ersetzt wird und daher die dunklen Stellen in Farbe erscheinen. Für beide Verfahren musste man die Kopien in einzelne Teile auftrennen, um sie partienweise einzufärben.

Wenn Schablonenkolorierung und Virage oder Tonung gleichzeitig das Bild überziehen, kann von restriktivem Modus jedenfalls kaum mehr die Rede sein, vielmehr wird ungehemmt dem Farbexzess gefrönt, jedenfalls in Filmen des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts.

L’antre infernal (F 1905, Gaston Velle) mit orangerosa oder lindgrüner Virage und knallroter Schablonenkolorierung oder blauer Virage und grüner Schablonenfarbe: Es sind zwar wenige Farbkombinationen, aber keineswegs zarte Pastelltöne, sondern stark gesättigte Primärfarben, die einen hochgradig bunten Eindruck erzeugen. Feuer und Explosionen sind beherrschende Motive in diesen phantastischen Universen, in denen der Teufel Urstand zu feiern scheint. Grobe Texturen im Vorder- und Hintergrund lassen die Figuren annähernd im Farbexzess abtauchen, zumal sie sich farblich kaum abheben. Die sorgsam gepflegte Dominanz des menschlichen Körpers, die sich im handkolorierten Film fand, ist aufgehoben zugunsten übergreifender Bildzonen, in denen das Feuer die zentrale Position einnimmt, selbst wenn es Ton-in-Ton mit dem Hintergrund gehalten ist.

Antreinfernale

Noch drastischer fällt die Farbgebung in Le pied de mouton (F 1907, Albert Capellani) (Bild) aus, wo sich rot-orange Zwischentitel mit grün- und sepiagetonten Partien abwechseln. Es ist allerdings anzunehmen, dass die grüne Tonung im Projektorlicht dunkler ausfällt und daher die Sättigung gedämpft wird. Überhaupt ist die authentische Farberscheinung in der zeitgenössischen Kinoprojektion eine noch ungelöste Fragestellung der Wiedergabe von historischen Farben, gerade auch für den nun notwendigen Digitalisierungsprozess.

Narrative Funktion und piktorialer Realismus

Ab den zehner Jahren beginnt die Attraktion der Farbe zurückzutreten hinter eine narrative Funktionalisierung einerseits oder einen dokumentarisierenden Modus andererseits, der Farbe als notwendiges Element eines piktorialen Realismus versteht, den auch Bregt Lameris in ihrem Text zu Pathécolor (in: Living Pictures: The Journal of the Popular and the Projected Image Before 1914, vol.2, no.2, 2003) herausarbeitet.

Cyrano de Bergerac (I/F 1923, Augusto Genina) war ein durchgängig getonter und schablonenkolorierter Film, von dem sich Fragmente in der ursprünglichen Farbe unter anderem am George Eastman House in Rochester und im EYE-Filmmuseum in Amsterdam finden. Es sind Bildeindrücke von poetischer Schönheit. Mit ihrem weichen, diffus modellierenden Licht und dem Vignettierungseffekt gemahnen sie an die Tradition des Piktorialismus in der Fotografie. Jedes Bild ist ein malerisches Tableau in gedämpfter Sepiatonung mit gebrochenen oder eher pastellfarbenen Tönen in der Schablonenkolorierung, wobei sich die derberen, humoristischen Passagen durch eine grellere Farbgebung abheben.

Während phantastische und exzessive Modi zu überwiegen scheinen, hatten Filmfarben von Anfang an auch dokumentarische Funktionen. Farbe, so dieser Strang der Argumentation, vervollständigt den Realitätseffekt der filmischen Abbildung. Vor allem die mimetischen Verfahren, besonders Kinemacolor und dessen noch wenig erfolgreiche Vorläufer, wurden mit diesem Anspruch entwickelt. Vor wenigen Jahren ist der angeblich allererste Farbfilm einer staunenden Öffentlichkeit vorgestellt worden, Parrot on the Perch von 1902. Allerdings ist ein solches Verfahren in einer Patentschrift von 1898 durch den Erfinder Hermann Isensee bereits beschrieben, nur sind Filmexperimente mit Isensees Technik bisher nicht überliefert. Wie bei Clerk Maxwell wurde dabei das Lichtspektrum in drei Bereiche zerlegt, und zwar sequenziell, sodass drei aufeinanderfolgende Bilder die Farben Rot, Grün und Blau darstellen. Für die digitale Rekonstruktion der Farbe liessen sich die schwarzweissen Teilbilder digitalisieren und wieder zu einem Farbeindruck zusammenfügen.

Besonders Schablonenkolorierung hat man als Substitut für einen funktionierenden mimetischen Farbprozess eingesetzt. Aus der Schweiz hat ein Film mit dem deutschen Titel Schweizer Bilderbogen im Bestand der Stiftung Deutsche Kinemathek überlebt. Der französische Originaltitel des Films aus der Produktion von Pathé ist bisher nicht bekannt. Die Kopie enthält eine Randbeschriftung, nach der sie in der Schweiz nicht gezeigt werden durfte.

In den Bildern wird eine historische Schweiz sichtbar, die in wunderbar in die Tiefe komponierten Anordnungen die Faszination für den aufkommenden Tourismus und die technischen Errungenschaften des Brückenbaus und der Eisenbahn feiern. In für die Zeit ungewöhnlich feinkörnigen Bildern, in denen viele Details der Landschaften und Architekturen in subtilen Graustufen sich mit den eher zarten, wenig gesättigten Farben verbinden, erhält die Vergangenheit eine bemerkenswerte Präsenz und Klarheit.

Diese avancierte Qualität wird sofort deutlich, wenn man diese Bilder mit den wenigen Fragmenten vergleicht, die aus dem Film Roald Amundsen’s North Pole Expedition (Norwegen 1924) erhalten sind, ebenfalls im Bestand der Deutschen Kinemathek in Berlin.

Nordpolexpeditionroaldamundsen

Es ist unklar, ob der Eindruck vor allem den Zerfallserscheinungen oder schon einer inhärenten Eigenschaft geschuldet ist, jedenfalls muten die fernen Zeiten und Orte wesentlich entrückter an. Sie entfalten eine eigene, fast phantasmagorische, opake Qualität. Ohne genauere chemisch-physikalische Analyse lässt sich nicht bestimmen, ob die Farbverläufe von Hellblau nach Gelbgrün intendiert waren oder ob es sich nur um eine Veränderung der Tonung handelt, die man im Fachjargon Leaking nennt, also ein Diffundieren der Farbstoffe in benachbarte Felder. Auf der Oberfläche und teilweise auch im Bild zeigt sich eine starke Aussilberung, wobei das Silber durch Oxidationsprozesse in allen Farben schillert. Dieser Verfallsprozess bringt in Teilen eine Solarisation mit sich, sodass sich das Bildpositiv partiell in ein Negativ wandelt.

Herausforderung an die Digitalisierung und Restaurierung von (frühen) Farbfilmen

Wie eingangs erwähnt, müssen die frühen Filme nun digitalisiert werden, damit sie zirkulieren können. Daher könnte sich mit der Digitalisierung des Films der Zugang zu historischen Filmfarben radikal verändern, denn im Unterschied zu fotochemischen Duplikationsverfahren, die hier nicht weiter erörtert werden, lassen sich mit digitalen Techniken die meisten frühen Filmfarben theoretisch sehr gut abbilden. In der Praxis jedoch sind die Prozesse sehr viel komplexer, und wir stehen überhaupt erst am Anfang eines auch wissenschaftlich fundierten Zugangs zu den Fragestellungen, die sich daraus ergeben.

Die Herausforderungen beginnen damit, dass professionelle Filmscanner nicht für historisches Filmmaterial entwickelt worden sind, jedenfalls die Mehrheit nicht. Daher sind sie für gewisse Spektren, die in den noch nicht standardisierten Farben des frühen Films vorkommen, regelrecht farbenblind. So gut wie alle Scanner verfälschen zudem den Farbeindruck massgeblich, sodass die gescannten Filme im Postproduktionsprozess signifikant farbkorrigiert werden müssen. Aber wie?

Um diese Frage zu erörtern, ist ein kleiner Exkurs notwendig. Farbe ist prinzipiell ein Konstrukt des visuellen Systems, das in einer bestimmten Art und Weise auf einen physikalischen Reiz aus der äusseren Welt reagiert. Der Farbeindruck oder die Farberscheinung ist daher einerseits als ein Zusammenspiel zwischen Oberflächeneigenschaften von Objekten und dem darauf scheinenden Licht zu verstehen, andererseits durch Eigenschaften eben dieses visuellen Systems, das sowohl durch physiologische Gegebenheiten wie auch durch höhere Prozesse der Reizverarbeitung gegeben ist. Technische Farbabbildungsprozesse sind in groben Zügen dem visuellen System nachempfunden, dies gilt übrigens für alle Medientechnologien, die die Sinne ansprechen, aber sie berücksichtigen nur basale Funktionen des physiologischen Apparats.

Farberscheinung – color appearance – bedeutet daher die Wahrnehmung von Farbe unter bestimmten Betrachtungsbedingungen. Auch Scanner sind, wenn man so will, durch gewisse Betrachtungsbedingungen charakterisiert, die sich aus ihren physikalischen Funktionsprinzipien ableiten lassen. Diese Funktionsprinzipien unterscheiden sich markant von den Wiedergabeprinzipien einer Kinoprojektion. Wenn es um historische Aufführungspraxen geht, kommt erschwerend hinzu, dass die Kinoprojektion weder wirklich standardisiert war noch im Detail bekannt ist. Dieser performative Aspekt, also die Aktualisierung der Filmfarbe in einem bestimmten Aufführungskontext, ist die eine Seite des Problems einer authentisch wirkenden Farbrekonstruktion.

Auf den Spuren von Dr. Caligari: ein Fallbeispiel

Die zweite Herausforderung ergibt sich aus der Vielfalt und der Instabilität der überlieferten Filmelemente. Dies lässt sich anhand der digitalen Restaurierung von Das Cabinet des Dr. Caligari (D 1919, Robert Wiene) sehr schön zeigen. Anlass für die erneute Restaurierung 2015, die Anke Wilkening für die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung verantwortet hat, war das schwarzweisse Kameranegativ, das zu grossen Teilen im Bundesarchiv Filmarchiv in Hoppegarten bei Berlin wieder aufgefunden, aber noch nie für die Restaurierungen herangezogen wurde. Dieses Negativ hat man für die digitale Restaurierung gescannt. Für die Farbreferenzen hat Wilkening sämtliche bekannten Kopien aus den ersten Jahren zusammengesucht, um eine Vorstellung von den verwendeten Farbschemas zu bekommen, denn eine zeitgenössische deutsche Kopie scheint nicht überliefert zu sein.

Zwei Kopien stammen ursprünglich aus Montevideo, befinden sich nun im Filmmuseum Düsseldorf beziehungsweise in der Cineteca di Bologna, weitere Kopien kamen von der Cinémathèque française, vom British Film Institute und von der Cinémathèque royale de Belgique. Zusätzlich zur Dokumentation der Kopien mit einem standardisierten Aufnahmeverfahren haben wir im Schweizer Forschungsteam des KTI-Projekts DIASTOR chemophysikalische Analysen vorgenommen, um die Genealogie der Kopien zu untersuchen. Spezielle Aufmerksamkeit haben wir bei der fotografischen Dokumentation den Schnittstellen gewidmet. Ähnlich einem Indizienprozess liessen sich damit verschiedene Spuren zusammenführen. So zeigen die hier abgebildeten Schnittstellen eindeutig, dass die beiden südamerikanischen Kopien früher zu datieren sind, da sie Schnittstellen innerhalb einer einzigen Virage aufweisen, die später einkopiert sind. Aus diesen Spuren setzte sich eine Farbreferenz zusammen, die sich schliesslich in der Farbbestimmung digital auf den Schwarzweiss-Scan übertragen liess. In der Rahmenhandlung war dies eine Kombination aus orange-dunkelgelber Virage mit dunkelblauer Tonung, während die Segmente der Binnenerzählung lediglich viragiert waren.

Materialität und Digitalisierung

Aus verschiedenen Gründen sind Digitalisierungen kein Ersatz für analoge Kopien, geschweige denn für Kameranegative. Digitalisierungen sind immer nur Momentaufnahmen und derzeit noch stark von technischen Limitationen gesteuert. Es sind Aufnahmen von historischem Filmmaterial unter bestimmten Betrachtungsbedingungen, die die Materialität des Films nicht abbilden können. Denn diese Materialität besteht aus dem spezifischen, dreidimensionalen Schichtaufbau der Filme, aus Trägermaterialien, Emulsionen, Farbstoffen oder Pigmenten, Silber oder anderen metallischen Verbindungen. Im Perforationsbereich, der in vielen Digitalisierungsverfahren abgeschnitten wird, finden sich wichtige Hinweise zur Geschichte und Genealogie des Materials. Wenn der Randbereich nicht ebenfalls im Digitalisat erfasst ist, wird daher eine zentrale restaurierungsethische Forderung von Digitalisierungen a priori missachtet, nämlich der Erhalt des Werks in seiner Integrität und Authentizität.

Bis heute übliche Praktiken, die historische Filme vernichten, sobald sie umkopiert oder digitalisiert sind, sind aus diesen Gründen zu verurteilen. Nicht zuletzt geht es auch darum, die Filme mit zukünftigen, besseren Verfahren erneut zu digitalisieren. Aber ohne politisch unterstützte nationale Digitalisierungsstrategie lassen sich diese Erkenntnisse nicht in die Praxis umsetzen, denn es ist ein anspruchsvoller, kostspieliger Prozess, der nur Sinn ergibt, wenn sowohl die finanziellen Mittel wie auch die Qualitätsstandards definiert sind.

An verbesserten, nachhaltigen Digitalisierungsverfahren, aber auch am politischen Bewusstseinsprozess arbeiten wir im neuen Forschungsprojekt «ERC Advanced Grant FilmColors» weiter, damit diese wunderbaren Farbfilme endlich sichtbar und einem breiteren Publikum zugänglich werden.

Alles über Farbverfahren finden Sie auf Timeline of Historical Film Colors von Barbara Flückiger

Caligari cesare

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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