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Une ville à Chandigarh – Essay zum Städtebau

Alain Tanner würzt das kaleidoskopische Porträt von Le Corbusiers Retortenstadt mit einer kräftigen Prise Brecht.

Text: Gregor Imhof / 01. Juni 2016

Architekturfilme bilden ein Subgenre des Dokumentarfilms. Mit Une ville à Chandigarh präsentierte Alain Tanner einen ersten wichtigen filmischen Essay zu einem städtebaulichen Thema. Viele bedeutende Vertreter dieses Genres gerade auch aus der Schweiz werden folgen. Doch welchen Stellenwert nimmt die Architektur in Tanners Werk ein, und wie wird Le Corbusiers urbane Vision in Szene gesetzt? Sicher ist: Das klassische Narrativ «von der Idee zum Plan zum fertigen Gebäude» bedient der Westschweizer Filmemacher nicht.

Als Alain Tanner 1966 aus Indien zurückkehrt, ist er etwas ratlos. Sechs Wochen hatte er in Chandigarh gedreht, unterstützt von Kameramann Ernest Artaria und Assistent Fred Hufschmid. Er bereiste zum ersten Mal den Subkontinent, war fasziniert von der Aufbruchstimmung, die er vorfand, und kämpfte mit den fremden Gepflogenheiten. Ohne Drehbuch und ausgerüstet mit der neuen leichten Eclair-­Kamera fängt er ein, was er vorfindet.

Zurück in die Westschweiz bringt Tanner viel filmisches Material, weiss aber nicht so recht, wie er es anordnen soll. Da tritt sein Freund John Berger auf den Plan. Der englische Schriftsteller kennt, im Gegensatz zu Tanner, die Arbeit von Le Corbusier gut und interessiert sich sofort für das Thema. Gemeinsam setzen sie sich an den Schneidetisch und sichten das Material. Sie entwickeln die Struktur des Films, und Berger schreibt den Offkommentar. (1) Es ist der Auftakt einer zehnjährigen erfolgreichen Zusammenarbeit.

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Beide interessieren sich zu dieser Zeit für die politische Linke und wollen Bertolt Brechts Ideen für das Theater künstlerisch adaptieren. (2) Und tatsächlich mischen sie eine kräftige Prise Brecht in ihr Chandigarh-Porträt. Die Filmemacher wollen keinen didaktischen Dokumentarfilm, der die Zuschauer mit einer bestimmten Perspektive stark lenkt und allzu schnell Zusammenhänge herstellt. Die Zuschauer sollen sich ein eigenes Bild machen können.

Da kommt es gelegen, dass Berger selber nicht in Indien war und das Thema aus einer gewissen Distanz betrachten kann. Dieser Umstand schreibt sich dem Film ein: Bild- und Tonspur entwickeln eine starke Autonomie und werden in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander gesetzt. Das Ergebnis ist ein fast einstündiger filmischer Essay, der das dokumentarische Material assoziativ anordnet und keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat. Auch nicht für die Themen Architektur und Städtebau.


Umbruch und Aufbruch

Neben Brasilia ist Chandigarh das zweite grosse städtebauliche Projekt im 20. Jahrhundert. Möglich respektive notwendig wurde es durch die Unabhängigkeit Indiens 1947 vom britischen Thron. Der Teilstaat Punjab wurde in eine indische und pakistanische Provinz geteilt. Dadurch lag die ehemalige Hauptstadt Lahore nun in Pakistan. Diesen Umstand nahm Ministerpräsident Pandit Nehru zum Anlass, im indischen Teil eine Stadt neu errichten zu lassen und ein kräftiges Zeichen für die Modernisierung des Landes zu setzen. Als Standort wählte man ein Gelände am Fuss des Himalajas in direkter Nachbarschaft zum Dorf Chandigarh, dessen Namem man auf den neuen Hauptort übertrug. Geplant war die Stadt für 500 000 Menschen, heute leben dort über eine Million Inderinnen und Inder.

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Zunächst entwickelte der Stadtplaner Albert Mayer den Masterplan. Ab 1950 war der Schweizer Architekt Le Corbusier für die Gesamtplanung verantwortlich und entwarf das Kapitol-Gebäude. Zu seinem Team gehörten bald die Engländer Jane Drew und ihr Ehemann Maxwell Fry, beide Experten auf dem Gebiet des Bauens in tropischen Klimaverhältnissen, und Le Corbusiers Cousin Pierre Jeanneret, mit dem er schon lange zusammenarbeitete und der die Projektleitung vor Ort übernehmen sollte. (3)Für den Schweizer Architekten bedeutete dieser Auftrag eine grosse Herausforderung und zugleich einen Höhe­punkt in seiner erfolgreichen Karriere.

Als Une ville à Chandigarh gedreht wurde, war Le Corbusier allerdings schon ein Jahr tot. Die Bauzeit der utopischen Stadt hatte bis zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre in Anspruch genommen, und ein Ende war nicht absehbar. «Die Stadt ist da, um zu lernen», heisst es an einer Stelle im Offkommentar, was den fortwährenden Erneuerungs- und Aneignungsprozess betont, auf den die Filmemacher in Indien gestossen sind.

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Mensch im Fokus

Nach eigenen Aussagen Tanners war Une ville à ­Chandigarh ein Auftragsfilm. Die Stiftung Le Corbusier und auch die Nichte des Architekten waren mit dem Vorschlag für dieses Projekt an ihn herangetreten. Produziert wurde der Film vom Westschweizer Fernsehen, der BBC und von Tanner selbst. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Filmemacher schon einige Dokumentarfilme gedreht, etwa über eine Schule oder Lehrlinge in der Schweiz, und vor allem für das Westschweizer Fernsehen kürzere Reportagen verfertigt. Noch ist sein Name wenigen Insidern bekannt. Erst kurze Zeit später folgt mit La salamandre (1971) sein internationaler Durchbruch im fiktionalen Film.

Tanners und Bergers Interesse galt klar gesellschaftspolitischen Themen. Chandigarh war in dieser Hinsicht eine Grossbaustelle: Nehru wollte sein Land zum Westen hin öffnen und die indi­sche Gesellschaft modernisieren. Sein erster Fünfjahresplan sah etwa umwälzende Massnahmen für die Bildung vor. Chandigarh war sozusagen ein Testgelände für neuartige Schultypen, weshalb Pädagogen und Architekten eng zusammenarbeiteten. Die Filmemacher interessierten sich für diese Umbruchsituation, in der «Jahrhunderte überbrückt wurden», so der Sprecher im Off, «Jahrhunderte zu Fuss». Die zentrale Frage für sie war, ob diese Reformen, und vor allem die Architektur, zu einer besseren Lebensform führen. Denn in letzter Konsequenz geht es ihnen immer um den Menschen. Das macht der Film mit einer thematischen Klammer an Anfang und Ende deutlich: Nicht imposante Gebäude sehen wir zu Beginn, sondern zur Arbeit aufbrechende Bewohner auf dem Fahrrad. Und am Schluss weilt die Kamera auf einer Inderin, die ein Lied direkt in die Kamera singt, akustisch begleitet von Sitar und Tabla.

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Dieses Interesse für den Menschen bildet sich bereits in der Fotografie der fünfziger Jahre heraus. Eine Verlagerung weg von sorgfältig komponierten Architekturaufnahmen hin zu den Nutzerinnen und Nutzern bildet eine Art Paradigmenwechsel in der Fotografie jener Jahre. (4) Asien, und so auch Indien, waren eine beliebte Destina­tion für Reportagefotografen. Bedeutende Künstler wie Henri Cartier-­Bresson, Ernst Scheidegger oder Werner Bischof sind mehrmals dorthin gereist.

Der Schweizer Ernst Scheidegger dokumentierte ausführlich die Entstehung von Chandigarh. Ihn interessierte der Lebensalltag, wie die Menschen in den neuen Gebäuden wohnen, arbeiten, die Stadt sukzessive in Besitz nehmen. Mit einem ethnografischen Auge fotografierte er vor allem auch die vielen Baustellen. Mehrere Tausend Menschen errichteten die neue Metropole mit ihren blossen Händen: die Baugerüste aus Bambus mit Schnüren festgebunden, die Baumaterialien auf den Köpfen tragend. Da bilden die futuristischen Bauten Le Corbusiers eine irritierende Gegenkulisse zur altertümlichen Handarbeit der Inder. Vor allem die vielen Frauen und Kinder, die etwa die Hälfte der Arbeitskräfte ausmachten, sind für Europäer ein interessantes fotografisches Sujet.

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Im bewegten Bild lassen sich arbeitende Menschen und die Prozesse am Bau noch besser darstellen. In einer eindrücklichen Sequenz hält auch ­Tanner eine solche Szene fest: Die Kamera zeigt in der Totalen, wie Frauen das Baumaterial auf ihren Köpfen herantragen, wie die Betonteller in einer Menschenkette von Hand zu Hand weitergegeben und dann über das treppenartige Gerüst bis ganz nach oben gereicht werden. Kontinuierlich rückt die Kamera näher ans Geschehen heran und lässt den Zuschauer über die Schnelligkeit der Abläufe staunen.

Der Offkommentar wählt einen eigenen Weg: Er kommentiert das Gezeigte nicht, sondern verleiht der Sequenz einen poetisch-ideologischen Dreh. Zitiert werden die ersten Verse von Bertolt Brechts Gedicht «Fragen eines lesenden Arbeiters»: «Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?» Diese Desynchronisation von Bild und Ton erzeugt einen schillernden Erzählraum, der vielfältige Sichtweisen provoziert.

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Teaser-Dramaturgie

Überhaupt scheint Tanner und Berger die Vielschichtigkeit des Themas ein Anliegen zu sein. Sie entwerfen in ihrem Dokumentarfilm eine kaleidoskopische Perspektive auf Chandigarh. Es sind gegen 40 Themen, die sie ansprechen: Der Film wechselt zwischen städtebaulichen Konzepten und täglichen Verrichtungen der Menschen, gesellschaftlichen Ungleichheiten und der Bedeutung der Tiere in Indien, Analphabetimus und einem Sikh-Erntetanz, traditioneller Handwerksarbeit und der Rolle der Frau. Kein Thema wird besonders hervorgehoben, keines entwickelt sich zwingend aus dem vorherigen. Sie werden immer nur ein Stück weit angerissen und dann durch das nächste abgelöst. Diese Teaser-Dramaturgie führt dazu, dass alle Inhalte wie gleichwertig nebeneinander liegen, kein klassischer Spannungsbogen den Zuschauer mitreisst. Und diese Struktur führt dazu, dass keines der Themen wirklich ausgeführt wird.

Der Offkommentar von John Berger, den Alain Tanner für die französische Version selbst relativ schnell eingesprochen hat, erweitert diesen assoziativen Charakter des Films zusätzlich. Oft wird das Visuelle mit literarischen Zitaten, von Rousseau bis Yeats, ergänzt, verfremdet, konterkariert. Manchmal weist der Offkommentar agitatorisch auf gesellschaftliche Missstände hin (Lohnungleichheit), selten ist er Ausdruck einer gewissen Skepsis (Kastensystem) oder wird pathetisch (Hoffnung auf neue Generation). Da die Originalgeräusche und die indische Musik in den Hintergrund gedrängt sind, ist der Offkommentar ein starker, auch dominanter Gegenspieler zum Bild.

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Was für den ganzen Film gilt, gilt auch für die Architekturthemen. Innenräume werden durch Rückwärtsbewegungen der Kamera in ­ihren Dimensionen erfahrbar, seitliche Schwenks und Fahrten fangen die Fassaden und die horizontale Ausbreitung der Stadt ein, Rückwärtszooms verorten die neuen Gebäude in ihrem Kontext. Tanner konzentriert sich vor allem auf die Wohnbauten, die von Jane Drew und Maxwell Fry stammen, und die von Pierre Jeanneret konzipierten Schulbauten. Die Repräsentationsarchitektur, wie das Kapitol, das Le Corbusier selbst entworfen hat, interessiert ihn weniger. Im Zentrum steht immer die konkrete Nutzung – also wie sich die Menschen den gebauten Raum aneignen.

Diese bereits mehrmals genannte Fokussierung auf den Menschen ist eine grosse Qualität des Films. Wer sich für die Architektur interessiert, hat es schwerer. Die Personen im Bild lenken schnell von den räumlichen Parametern ab, und der Film sperrt sich auch hier gegen eine vermittelnde Kommunikation. Man muss ihn mehrmals anschauen, um die genannten architektonischen Aspekte herauszufiltern. Und selbst dann bleibt einiges offen

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Weil der Dokumentarfilm nicht dem Prinzip der Kontinuitätsmontage folgt, ist eine räumliche Orientierung für die Zuschauer in diesem ohnehin komplexen Stadtgefüge schwierig. So etwas wie eine kognitive Karte, also eine mentale Repräsentation der räumlichen Gegebenheiten, kann beim Betrachter kaum entstehen. Informationen zu den geschichtlichen Hintergründen, zum Architektenteam oder etwa zu Entwurf und Konstruktion fehlen ganz. Am deutlichsten wird diese Verweigerungshaltung bei einer Sequenz, in der die Handskulptur von Le ­Corbusier gezeigt wird. Sie ist nur wenige ­Sekunden im Bild und bleibt unkommentiert. Wer nicht weiss, dass «La main ouverte» für Le Corbusier ein wichtiges Symbol, eine Art künstlerische Signatur war und gerade in Chandigarh als Zeichen für die blockfreien Staaten stehen sollte, kann diesen Zwischenschnitt nicht einordnen. (5)


Distanz und Offenheit

«Obwohl meine Filme dramaturgisch flach und weich sind, scheinen sie mir viel subversiver und subtiler als die meisten sogenannten politischen Filme.» 6 Was Tanner auf den fiktionalen Film bezieht, gilt in gewissem Sinne auch für Une ville à Chandigarh. Indem alle Themen gleichwertig behandelt werden, entsteht keine pulsierende Dramatik, sondern eine gleichmässige horizontale Erzählachse, manchmal ziemlich blutarm.

Die Montage bricht Inhalte immer wieder vorzeitig ab und lässt sie als Fragmente stehen. Vor dem Betrachter kann sich nur schwer ein abgerundetes Bild abzeichnen. Diese Unschärfe wird zusätzlich durch die verbalen Einwürfe des Offkommentars genährt. Insgesamt wird eine eindeutige Lesart erschwert, das Publikum auf Distanz gehalten, emotional nicht zu stark involviert. Es muss aufmerksam bleiben und eine eigene Haltung zum Gezeigten entwickeln. Da sind wir nahe bei Brechts epischen Ideen.

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Architektur und Städtebau werden thematisiert, stehen aber nie für sich allein als ästhetische und konstruktive Phänomene da, sondern sind Bestandteil von grösseren gesellschaftspolitischen Zusammenhängen. Ganz fremd sind dem Film ein gewisser Personenkult oder eine Überhöhung der Architektur durch wohlkomponierte Einstellungen, wie sie Vertretern dieses Genres manchmal eigen sind. Vielmehr wird das Gebaute stets auf seine Gebrauchstauglichkeit und humane Dimension hin überprüft.

Literatur

1 Interview mit Alain Tanner. Les hommes du port / Une ville à Chandigarh. trigon-film dvd-edition 61. Ennetbaden 2006.

2 Christian Dimitriu: A film poet between utopia and realism. Zürich 1991.

3 Stanislaus von Moos (Hg.): Chandigarh 1956. Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Jane B. Drew, E. Maxwell Fry. Fotografien von Ernst Scheidegger. Zürich 2010.

4 Verena Huber Nievergelt: Zwischen Reportage und Architektur­dokumentation. Ernst Scheideggers Indien. In: Chandigarh 1956. Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Jane B. Drew, E. Maxwell Fry. Fotografien von Ernst Scheidegger. Zürich 2010, S. 204–213.

5 Marie-Jeanne Dumont: Die offene Hand. Vom politischen Symbol zur Signatur des Künstlers. In: Le Corbusier. Die menschlichen Masse. Zürich 2015, S. 135–141.

6 Zitiert nach Karl Saurer: Die Gegenwart mit den Augen der Zukunft sehen. In: Film in der Schweiz. München, Wien 1978, S. 179.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2016 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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