Filmbulletin Print Logo
An affair to remember 1957

Fragile Gemeinschaft

Mit Leo McCarey widmet das Filmfestival von Locarno seine Retrospektive einem ­Regisseur, der in den unterschiedlichsten Genres bril­lierte. Ob absurder Slapstick oder herzzerreissendes ­Melodrama, romantische Komödie oder politische Propaganda – das heterogene Werk kreist immer wieder um ein grosses Thema: Wie Verbundenheit gelingen kann, auch in un­sicheren Zeiten.

Text: Elisabeth Bronfen / 31. Juli 2018

… Jean Renoir hat von McCarey behauptet, niemand in Hollywood hätte Menschen besser verstanden als er. Besonders augenscheinlich zeigt sich diese Einfühlungskraft in den beiden Filmen, die 1937 ins Kino kommen. Als Motto für Make Way for Tomorrow gilt der Hinweis, die schmerzhafte Kluft zwischen den Alten und den Jungen könne nur durch das Gebot eines sehr weisen Mannes überbrückt werden: «Halte deinen Vater und deine Mutter in Ehren.» Worauf dieses grausam rührende Melodrama allerdings unseren Blick lenkt, sind die traurigen Umstände, die es oft verunmöglichen, diese Weisung einzuhalten. Im Zentrum steht das Schicksal des alten Ehepaars Cooper. Aus finanzieller Not muss es sein Familienhaus aufgeben und, voneinander getrennt, vorübergehend zu ihren Kindern ziehen: Lucy zu der Familie in Manhattan, Barkley zu der in einer nahe liegenden Kleinstadt. Anfänglich meinen es zwar alle gut mit den Alten, und dennoch will keiner sein Leben den veränderten Umständen entsprechend umstellen. Allein schon die Notwendigkeit, genug Geld zu verdienen, um ihren bürgerlichen Lebensstil aufrechtzuerhalten, verbietet es den Kindern, allzu viel Geduld für die doch sehr schrulligen Eltern aufzubringen. Für sie hat es ganz buchstäblich im Alltagsleben der Jungen keinen Platz. McCarey wirft einen ernüchternden Blick auf die Kollateralschäden jenes vorwärtsgewandten Blickes, der so typisch ist für das amerikanische Selbstverständnis und demzufolge all diejenigen auf der Strecke bleiben müssen, die nicht am Streben nach Wohlstand mithalten können.

Make way for tomorrow 1600x900 c default

Die Inszenierung hebt diese Tragik dadurch hervor, dass das Ehepaar Cooper nochmals für einen Tag zusammenkommen darf. Doch die New Yorker Strassen, denen sie glücklich entlangschlendern, sind allesamt nur in der irreal wirkenden Tricktechnik der Rückprojektion zu sehen. Die flüchtige Zweisamkeit kann sich nur auf einer Bühne abspielen, die deutlich aus der Welt des Gewöhnlichen herausfällt. Dann finden sie sich in dem Hotel ein, in dem sie vor fünfzig Jahren ihre Hochzeitsreise feierten. Ein letztes Mal wollen sie miteinander festlich speisen und tanzen, bevor dieses geteilte Glück am Bahnsteig unweigerlich sein Ende nehmen muss. Nach einer letzten Umarmung nimmt Barkley in seinem Abteil Platz, der Zug fährt ab. Lucy blickt ihm in einer Einstellung, die etwas zu lange dauert, nach. Grad mehrere Sekunden lang steht sie da, im Hintergrund nichts mehr als eine leere Wand. Dann erst wendet sie sich um, jener einsamen Existenz zu, in die sie eingewilligt hat. Ergreifend und zugleich unerträglich verharrt die Kamera bei ihrem resignierten Blick. Die Entsagung, die sich in ihm ausdrückt, ist notwendig und hätte dennoch vermieden werden sollen …

Den ganzen Essay können Sie weiterlesen in der Printausgabe von Filmbulletin.
Ausgabe 5/2018 nachbestellen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Essay

30. Sep. 2021

Zeit zum Sterben?

Vom Märchenprinzen zum Superhelden – war der Reboot von James Bond mit Daniel Craig etwa ein grosser Irrtum?

Essay

23. Apr. 2019

«You’ve gotten your pound of flesh!»

Das Nachleben Shakespeares hat viele Facetten. Insbesondere in den Erfolgsformaten von HBO, Netflix & Co. Die Autor_innen von Serien wie House of Cards, Dead­wood oder Westworld speisen nicht nur entkontextualisierte Hamlet-Zitate in ihre Erzähl­universen ein, sondern bilden auch ganze Figuren und Handlungsstränge den Shakespeare-Klassikern nach.

Essay

09. Sep. 2021

9/11 und die neue alte Frontier

Gerade der Western diente dem US-Kino nach den Terrorattacken auf das World Trade Center als Ort der Neuverhandlung der amerikanischen Identität. Im Grenzgebiet der Moral erfahren die ursprünglichen amerikanischen Werte eine Umdeutung.