Matteo Garrone, Dogman basiert auf einem wahren Mordfall. Sie haben jedoch viele der überlieferten Fakten geändert. Warum?
Matteo Garrone: Die wahre Geschichte ereignete sich in Italien vor dreissig Jahren und wurde wegen der Grausamkeit des Mordes und der makabren Art, wie das Opfer gefoltert wurde, bekannt. Also eigentlich perfekt für einen Splatterfilm. Diese Art des Zugangs hat mich aber nicht interessiert, weil ich den Rachefilm nach dem Muster «Schwächling tötet den starken Typen» zu oft gesehen habe. Mich hat vielmehr die psychologische Gewalt interessiert, die Psyche dieser Figur und die Konflikte in ihrer Beziehung zu diesem Bully. Es war mir auch sehr wichtig, der Menschlichkeit der Hauptfigur bis zum Schluss zu folgen, damit Marcello die Gewalt nie vorsätzlich anwendet. Es sollte für ihn immer nur ein Weg sein, um zu überleben, nie Rache. Er will seine Würde als Mensch wahren und respektiert werden. Dabei ist er sehr naiv und meint, wenn sich der andere entschuldigen würde, könnte man die Sache begraben. Aber manchmal spricht der andere eben eine andere Sprache, die Sprache der Gewalt. Auch wenn es nicht die eigene Sprache ist, bleibt man in diesem Mechanismus gefangen. Wie in einem Spinnennetz.
Die Gewalt zieht sich durch viele Ihrer Filme, von L’ imbalsamatore über Gomorra zu Dogman.
Die Gewalt ist in der Geschichte wichtig, um zu verstehen, wie Marcello handelt. Auch Angst spielt eine grosse Rolle. Und zwar, weil es verschiedene Stufen von Angst gibt. Sie können sich vor jemandem fürchten, der Ihnen gegenüber gewalttätig werden könnte, oder Sie können Angst haben, weil Leute andere Leute durch Angstmache kontrollieren wollen. Auch politisch. Es gibt so viele Arten von Angst, und Marcello ist nur ein einfacher Mann, der seine Tochter, sein Leben und sein Geschäft retten will. Er verteidigt all dies gegen Aggression von aussen, vor allem gegen diese zwiespältige Beziehung zu Simoncino. An Simoncino fasziniert Marcello all das, was er selber nicht ist: stark, mutig und auch angsteinflössend. Zugleich leidet er unter dessen Gewalt.
Steckt darin auch eine politische Allegorie? Der starke Mann in Italien?
In der Welt. Der Wind der extremen Rechten weht überall, nicht nur in Italien.

Wir sind von Gewalt umgeben, aber es ist auch Machtlosigkeit im Film. Gibt es eine Antwort auf Gewalt?
Es gibt keine allgemeingültige Antwort auf Gewalt, auf das Böse. Woher kommt es? Aus uns, unserer Natur? Von den Umständen, in denen man aufwächst? Oder vom zufälligen Zur-falschen-Zeit-am-falschen-Ort-Sein? Schwer zu sagen. Aber was mich interessiert, ist diese Figur, die darum kämpft, sich selbst zu sein: geliebt zu werden und glücklich mit seiner Tochter zu sein. Er ist auch jemand, der Fehler begeht. Er ist nicht ganz unschuldig, sondern verfügt über helle und dunkle Seiten. Manchmal macht er Fehler aus Angst oder, weil er eine falsche Entscheidung getroffen hat. Das kann jedem passieren. Auch mir. Im Film war ich immer auf der Seite von Marcello, nie über ihm, nie über ihn urteilend. Es ist eine Frage des Glücks, so wenig Fehler wie möglich zu machen, und wir müssen immer auf der Hut sein.
Marcello beweist aber auch grossen Mut, als er den Hund aus der Gefriertruhe rettet.
Die Szene zeigt, wie zärtlich, fürsorglich und grosszügig Marcello ist. Er ist ein Mann, der Liebe für seine Tochter, den Hund und die Gemeinschaft empfindet. Er ist ein friedlicher Typ. Spielt Fussball mit seinen Freunden und ist in die Gemeinschaft integriert. Doch dann entwickeln sich die Dinge in die falsche Richtung.
Auch die Hunde spielen eine wichtige Rolle.
Die Hunde waren vor allem visuell wichtig, denn sie sind sozusagen das erste Publikum des Kampfes am Ende des Films. Ich habe sie mir als Theaterpublikum eines brutalen Kampfes vorgestellt. An ihnen zeigt sich aber auch Marcellos Menschlichkeit. Er ist wie ein moderner Buster Keaton. In der Art, wie er mit den Hunden spielt, wie er mit seinem Hund isst oder die anderen Hunde massiert. So kommt ein bisschen Leichtigkeit in den Film, bevor Marcello in der zweiten Hälfte ins dunkle Loch fällt.
Trotz der Härte der Geschichte, ist der Film auch wunderschön.
Wenn man einen Film macht, muss man die richtige Bildsprache wählen: Farbe, Gesichter, Atmosphäre. Es ist, wie wenn man die Sonnenblumen von Vincent van Gogh betrachtet. Da spricht man nicht über die Wahl der Blume, man ist von der Art, wie sie gemalt ist, betört. Ich war früher Maler, sodass mir die Form, wie eine Geschichte erzählt wird, sehr wichtig ist. Die Geschichte selbst ist ja ganz einfach: Es ist der ewige Kampf zwischen Schwach und Stark. Je nach dem aber, wie man die Figur zeichnet, kann der Film gut oder schlecht werden. Es ist wichtig, wie man die Geschichte erzählt, nicht die Geschichte selbst und auch nicht, ob sie schon mal erzählt wurde.

Auch in Dogman kommt das organisierte Verbrechen vor, jedoch weniger direkt als in Gomorra.
In Gomorra habe ich mich mehr auf die menschlichen Archetypen und auf die Psychologie konzentriert. Kinder handeln wie Kriminelle, weil sie meinen, sie seien in einem Film und nicht im wahren Leben. Ich wähle immer eine humanistische Perspektive. Manchmal mache ich dabei auch einen Genrefilm, wie Gomorra ein Mafiafilm ist. Gleichzeitig sind meine Filme immer auch Märchen. Und Gomorra war ein düsteres Märchen. Dogman schliesst in dieser Hinsicht an L’ imbalsamatore, Il racconto dei racconti und Gomorra an: Ich beginne mit einer wahren Begebenheit und entwickle dann eine Geschichte mit einer fantastischen oder abstrakten Dimension.
Wenn wir vom Genre sprechen: Dogman hat etwas von einem mordernen Western. War der Western ein Vorbild?
Absolut. Das Dorf, in dem wir drehten [Castel Volturno, nördlich von Neapel], erinnerte uns an einen Western. Der Ort wurde zu einer eigenständigen Figur in der Story. Es war sehr wichtig, ein Dorf zu haben, in dem jeder jeden kennt, sodass der Verrat durch Marcello an der Gemeinschaft zu seiner Isolation führen würde. Darum bin ich nach Gomorra und L’ imbalsamatore dorthin zurückgekehrt.
Wie hat es sich verändert?
Es geht bergab; es wird verlassener. Für mich ist es aber wunderschön. Und für den Film passt es perfekt. Wir haben nur wenig hinzugefügt: den Spielplatz, Marcellos Laden und den seines Nachbarn. Sonst stimmt alles, die Farben, das Licht. Dieser Ort muss mich lieben, denn jedes Mal, wenn wir dort drehen, ist das Licht perfekt. Ich drehe chronologisch. Das hiess: erster Teil Sonne und, als Marcello aus dem Gefängnis kommt, Regen. Von da an regnet es immer, es ist eine graue, triste Atmosphäre.
Sie haben in Castel Volturno gleich drei Filme gedreht. Wie haben Sie den Ort überhaupt entdeckt?
Ich kann mich noch gut daran erinnern. Ein guter Freund aus Neapel führte mich dorthin. Es war ein verlassenes Dorf, das in den Siebzigerjahren für US-amerikanische Soldaten der NATO und ihre Familien gebaut worden war. Für alle meine Freunde, die damals dort lebten, war es ein Paradies. Sie hatten sowohl die amerikanische als auch die neapoletanische Kultur, und das Meer. In den späten Neunzigerjahren zogen die Soldaten in eine kleinere Basis. Es ist nun verlassen, aber ich liebe es. Beim Filmen gibt es hier keine Probleme mit dem Verkehr.
Das Schauspiel in Dogman ist wunderbar und Edoardo Pesce als Exboxer Simoncino furchterregend.
Simoncino ist engstirnig. Seine Zukunftsperspektive umfasst nicht mehr als zehn Minuten. Wenn er etwas will, dann sofort. Edoardo Pesce war sehr, sehr gut, denn er hat in der Figur eine menschliche Seite entdeckt, die nicht dem Stereotyp des Bösewichts entspricht. Auf der Leinwand ist er lebendig. Und wir wissen ja, wie wichtig der Bösewicht in Filmen ist. Wenn dieser nicht stark und glaubwürdig ist, fällt alles in sich zusammen.
Als er ans Set kam, hatte sich Edoardo an Robert De Niro in Raging Bull orientiert, doch ich habe das alles wieder rausgenommen. Wir entschieden uns für eine Figur, die selten spricht. Nur ganz wenige Worte. Er ist unberechenbar und geheimnisvoll. Auch Marcello Fontes Arbeit ist unglaublich; er spielt mit den Augen. Ich hoffe, er gewinnt hier in Cannes.
[Für seine herausragende Schauspielleistung wurde Marcello Fonte in Cannes zu Recht mit dem Preis für den besten Darsteller ausgezeichnet.]
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