Am diesjährigen Bildrausch Filmfest in Basel lieft der neuste Film der britischen Regisseurin Joanna Hogg: ein schlaues und beunruhigendes Porträt der Mittelklasse. In unserem Interview spricht sie über die autobiografische sowie historische Hintergründe ihres Films The Souvenir, sowie über ihren Arbeitsprozess.
Filmbulletin: Frau Hogg, die Geschichte, die Sie in The Souvenir erzählen, ist zum Teil autobiografisch. Wo genau hört die Realität auf, und wo fängt die Fiktion an?
Joanna Hogg: Es ist ein einziges Chaos, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, was wahr ist und was nicht, weil ich selbst ständig irritiert bin, wenn ich ein Bild oder einen Ausschnitt aus dem Film sehe. Die Geschichte, das Apartment, in dem Julie lebt, all das basiert auf meiner Erinnerung an eine Erfahrung, die ich als junge Frau gemacht habe. Aber als ich den Castingprozess startete und mein Production Designer seine Arbeit machte, bekam der Film ein Eigenleben, in dem ich zwar einige Momente und bestimmte Einzelheiten wiedererkenne, anderes aber im positiven Sinne neu und fremd erscheint. Wenn ich den Film eine Weile nicht gesehen habe, ist die Verwirrung perfekt. Kurz: Es ist ein permanenter Prozess des Erinnerns und der Auseinandersetzung mit dem, was von der Realität hängen geblieben ist.
Filmbulletin: War es schwer für Sie, in die eigene Vergangenheit zurückzublicken?
Joanna Hogg: Ja, vor allem beim Schreiben, als es darum ging, die eigenen Erinnerungen wieder hervorzukramen. Das war der schmerzhafte Teil im Entstehungsprozess des Films. Aber irgendwann war das vorbei und alles wurde leichter. Als wir mit den Dreharbeiten anfingen, war ich nur noch gespannt darauf, was aus den Bildern in meinem Kopf auf der Leinwand entstehen kann. Ich hatte das Gefühl, etwas noch einmal durchlebt zu haben, eine düstere Reise ins Innere, die schliesslich die Richtung wechselte und eine eigene Form, eine eigene Identität annahm.

Filmbulletin: Ihr Hauptfigur, Julie, ist eine komplizierte junge Frau, die Sie mit geradezu brutaler Ehrlichkeit beleuchten. Sie zeigen ihre Abhängigkeit und Unfähigkeit, selbst zu handeln. War das von vornherein Ihr Anliegen?
Joanna Hogg: Ich hoffe, es ist nicht ganz so schwarz-weiss, wie Sie es beschreiben. Es geht mir in dem Film darum, die Komplexität unserer Persönlichkeit aufzuzeigen. Ich selbst bin manchmal sehr enttäuscht, wenn ich Figuren sehe, die allzu eindimensional sind, denen die Vielfältigkeit abgeht, die in jedem einzelnen Menschen steckt. Deshalb war es mir wichtig, meine Protagonisten in all ihren Facetten zu beleuchten. Ich wollte mir selbst und meinen Gefühlen gegenüber ehrlich sein im Hinblick darauf, wie und wer ich als junge Frau gewesen bin. Natürlich ändert sich vieles im Laufe der Arbeit an einem Film, weil alle Beteiligten ein Stück von sich selbst in die Geschichte und in die Figuren miteinbringen. Aber es stimmt schon, ich war ziemlich naiv damals. Das ist nicht einfach zu beschreiben, zumal die Dinge im Film immer verkürzt dargestellt sind. Neben dem, was erzählt wird, wird genau so viel ausgelassen, und es geht darum, eine Balance zu schaffen, die es dem Publikum ermöglicht, sich trotzdem in kürzester Zeit ein Bild von der Figur zu machen. Entscheidend ist, die Situationen und Begegnungen klug zu wählen, die zur Charakterisierung der Protagonist_innen dienen. Ich wollte Julie keineswegs lediglich als naives Mädchen darstellen, sondern vielmehr das Verhängnis aufzeigen, das sich einstellt, wenn einem plötzlich jemand mit grosser Selbstsicherheit gegenübertritt, der behauptet, er sehe etwas in einem; jemand der behauptet, er kenne und verstünde einen. Die Vorstellung ist sehr verführerisch. Sobald man sich dieser Idee hingibt, ist es schon zu spät. Dann kann alles Mögliche passieren, weil man sich aus der Bahn geworfen fühlt. Weil man «gesehen» worden ist. Deshalb ist es immer gefährlich, als Frau jemanden zu treffen, der behauptet, man sei etwas Besonderes.
Filmbulletin: The Souvenir ist ein sehr intimer Film. Da gibt es diese wunderbare Szene, wenn Julie und Anthony im Bett liegen und sozusagen ihre Spielräume markieren.
Joanna Hogg: Ja, das ist zum Beispiel so ein Moment, der nicht konkret aus meiner Erinnerung stammt, aber sich irgendwann in meinem Kopf festgesetzt hat. Ich wollte eine Referenz zu It Happened One Night und der Jericho Wall schaffen, und Julies Stofftiere stehen in gewisser Weise stellvertretend dafür. Viele Ideen spielen in diese Szene hinein.
Filmbulletin: Sie setzen die Figuren auch in den Kontext zur Geschichte, indem Sie Ereignisse wie den Bombenanschlag der IRA auf Harrods im Jahre 1983 einbauen.
Joanna Hogg: Es war wichtig, diese Dinge im Film zu haben, einfach weil diese Ereignisse ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens als junge Frau in London waren. Und es gab noch viel mehr, was wir hätten zeigen können, die Aufstände in Brixton beispielsweise oder die Ausschreitungen, nachdem die Thatcher Regierung die Kopfsteuer einführte. Es war eine bewegte Zeit damals und ich musste mich entscheiden, welche Ereignisse ich erwähnen wollte. Auch weil die politischen Hintergründe in Zusammenhang mit Anthonys mysteriöser Arbeit stehen sollten, um das Gefühl der Ambivalenz im Hinblick auf seine Person noch zu erhöhen.

Filmbulletin: Wie war es für Sie, das London Ihrer Jugend wiederauferstehen zu lassen? Es gibt gar nicht so viele Strassenszenen, aber der Film vermittelt dennoch ein sehr klares Gespür für die Zeit und die Atmosphäre damals.
Joanna Hogg: Es war nicht einfach. Zumal wir gar nicht viel in London selbst gedreht haben, sondern vielmehr in Norfolk im Inneren eines Flugzeughangars. Aber ich habe recht viel mit dem Material gearbeitet, das ich noch aus der Zeit hatte, vornehmlich Fotografien, 35-mm-Diapositive und Super-8-Aufnahmen. Ich denke, die Anlehnung des Films an dieses Material aus den frühen Achtzigerjahren gibt dem Ganzen eine gewisse Authentizität, ohne zu dick aufzutragen – zumindest hoffe ich das.
Filmbulletin: Es kommt darüber hinaus nicht selten ein klaustrophobisches Gefühl auf, was erstaunlich ist angesichts der Tatsache, dass sich die Handlung grösstenteils in Julies kleinem Apartment abspielt.
Joanna Hogg: Ich finde es spannend, mir selbst Grenzen aller Art zu setzen. Ausserdem hat sich so vieles in meinem Leben tatsächlich in diesem kleinen Raum abgespielt, deshalb war es für mich wichtig, die Begrenzung einzuhalten. Dazu kommt ja auch, dass es damals noch keine Smartphones gab und man sich automatisch viel mehr zu Hause aufhielt, um mit Freunden zu telefonieren oder sich zu treffen.
Filmbulletin: War Julie tatsächlich verführt von dem rätselhaften Mann, der zu ihr meint, dass sie für den Rest ihres Lebens verloren sei? Oder war sie einfach verführt von Menschen wie ihm, die gute Geschichten erzählen können? Geschichten, die sie später als Ideen in ihre Filmen übernehmen könnte.
Joanna Hogg: Verschiedene Souvenirs meinen Sie. (Lacht.) Aber im Ernst, ich glaube nicht, dass sie soweit gedacht hat oder jemals soweit gedacht hätte. Ich jedenfalls habe mit Sicherheit damals nichts dergleichen im Sinn gehabt. Ich glaube, wenn jemand sagt, man werde ein Leben lang allein bleiben, dann hat das auch etwas merkwürdig Schmeichelhaftes, einfach weil wir Menschen uns im Endeffekt immer allein fühlen. Das heisst, die Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen, die das gesagt bekommen, sich angesprochen fühlen, ist relativ hoch. Auch Julie fühlt sich von ihrer Umgebung isoliert und springt deshalb darauf an, denn sie ist noch nicht selbstbewusst genug im Hinblick auf ihre eigene Kreativität und ihre Arbeit als Regisseurin, um zu wissen, dass sie eines Tages auf ihr eigenes früheres Leben zurückgreifen wird, um daraus etwas Neues zu schaffen. Das wird erst später im Film angedeutet, wenn der Direktor der Filmschule über die Wichtigkeit des Bezugs zum eigenen Leben in der Arbeit redet.

Filmbulletin: Inwieweit stimmt die Darstellung der jungen Regisseurin im Film mit der jungen Joanna Hogg überein?
Joanna Hogg: Ziemlich genau, würde ich sagen. Ein wilder Mix aus extrem unsicher und unglaublich vermessen. Aber das wird im zweiten Teil noch mehr in den Mittelpunkt gerückt. Die Unsicherheit und das Fragende, aber auch die Gewissheit, dass die Filmschule sie festzulegen und in eine bestimmte Richtung zu drängen versucht. Auch ich hatte in der Schule immer das Gefühl, ständig unter diesem Druck zu stehen.
Filmbulletin: Sie beschreiben im Film eine Szene, in der Julie vor einem Komitee ihre Filmidee präsentieren muss. Fallen einem diese Situationen mit der Erfahrung und im Alter leichter?
Joanna Hogg: Nein, nie. Jedenfalls nicht mir.
Filmbulletin: Kommen wir auf Ihre wunderbaren Schauspieler zu sprechen. Wie lange kennen Sie und Tilda Swinton sich eigentlich schon?
Joanna Hogg: Seit der Kindheit. Unsere Eltern kannten sich und wir wuchsen quasi zusammen auf.
Filmbulletin: The Souvenir ist auch nicht ihre erste Zusammenarbeit, nicht wahr?
Joanna Hogg: Nein, wir haben schon auf der Filmschule zusammengearbeitet, worauf im Film auch kurz angespielt wird. Das erste Mal 1985. Der Film hiess The Rehearsal und wurde niemals fertiggestellt. Dann, ein Jahr später, haben wir meinen Abschlussfilm zusammen gemacht. Aber das war’s, danach trennten sich unsere Wege arbeitstechnisch - bis jetzt.
Filmbulletin: Und nun spielt zudem Swintons Tochter Honor die Hauptrolle. Wie kam es dazu?
Joanna Hogg: Es ist schon seltsam und ich weiss ehrlich gesagt auch nicht, wie das kommt, weil ich privat eine extrem risikoscheue Person bin. Ich fliege zum Beispiel nicht gern und würde niemals auf die Idee kommen, einen Abenteuerurlaub zu machen. Aber wenn es um meine Arbeit geht, liebe ich es, mich dem Risiko hinzugeben. Ich glaube, dass genau darin das Lebensblut von Kreativität steckt, in der Bereitschaft, etwas zu riskieren, ohne sich vor einem möglichen Scheitern zu fürchten.
Filmbulletin: Haben Sie die Besetzung denn tatsächlich als Risiko empfunden?
Joanna Hogg: Nein, so kann man das nicht sagen. Weniger als Risiko und mehr als spannende Versuchsanordnung, denn ich bin kein Freund von Castings und Vorsprechen im herkömmlichen Sinn. Ich treffe mich lieber mit Leuten und entweder es klickt, oder es klickt nicht. Und Honor habe ich als Julie noch einmal ganz neu kennengelernt, das war eine wunderbare Entdeckung für mich.

Filmbulletin: Tom Burke als Anthony ist nicht weniger spannend. Er verkörpert das Mysteriöse seiner Figur perfekt. Wie etwa die Unsicherheit darüber, ob er tatsächlich im Auswärtigen Amt arbeitet, oder nicht?
Joanna Hogg: Die Frage kann ich Ihnen leider auch nicht beantworten. Ich kann sie momentan nicht einmal mir selbst beantworten. Das ist eines der Motive, die ich im zweiten Teil noch weiter erkunden möchte. Er ist sicherlich keine vertrauenswürdige Person, aber ich bin auch nicht interessiert an einer einfachen Gegenüberstellung von Gut und Böse. Es war mir wichtig, seine Verletzlichkeit zu zeigen und in Ansätzen vielleicht auch die möglichen Gründe für seine Abhängigkeit aufzudecken.
Filmbulletin: Stand es für Sie von vornherein fest, dass der Film in zwei Teilen gedreht werden sollte?
Joanna Hogg: Ja. Ich habe erst später herausgefunden, dass ich sogar 1988 schon mit dem Gedanken gespielt hatte. Sie müssen wissen, das Projekt liegt einem langwierigen Denkprozess zugrunde, zu dem jede Menge Insichgehen und das Lesen von alten Tagebüchern und Notizheften gehört. In dem Prozess bin ich irgendwann auf einen Vermerk von mir gestossen, dass es zwei Teile werden sollen.
Filmbulletin: Wissen Sie bereits, wo der zweite Teil einsetzt?
Joanna Hogg: Ich stecke gerade noch mittendrin, alles auszuarbeiten. Aber ich bin eigentlich bisher immer davon ausgegangen, dass der zweite Teil da einsetzt, wo der erste aufhört. Mal sehen, ob es dabei bleibt.
Das Gespräch führte Pamela Jahn.

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