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Grauzone

Weder schwarz noch weiss, weder Fisch noch Vogel – Grauzonen: Grauzone macht in einem Wort einen schwer zu umschreibenden Zwischenbereich fassbar; ein Niemandsland, ein Zwischending, das keinen bestimmten Namen hat, wird mit der Metapher Grauzone plötzlich benennbar. Grauzonen gibt es, wo wir auch hinsehen, überall in unserem Leben, in unserer Gesellschaft. Man erkennt Grauzonen sozusagen daran, dass man sie nicht eindeutig benennen kann, weil sie in der Grauzone liegen.

Text: Josef Erdin / 01. Okt. 1979

Weder schworz noch weiss, weder Fisch noch Vogel – Grauzonen: Grauzone macht in einem Wort einen schwer zu umschreibenden Zwischenbereich fassbar; ein Niemandsland, ein Zwischending, das keinen bestimmten Namen hat, wird mit der Metapher Grauzone plötzlich benennbar. Grauzonen gibt es, wo wir auch hinsehen, überall in unserem Leben, in unserer Gesellschaft. Man erkennt Grauzonen sozusagen daran, dass man sie nicht eindeutig benennen kann, weil sie in der Grauzone liegen.

Auf der Suche nach den abgewanderten Bauernsöhnen und -töchtern seines Berglerfilms Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind entdeckte der Regisseur Fredi M. Murer jenen Ort, wo sich die schweigend angepasste Mehrheit der Helvetier massiert: die anonymen Wohnsilos om Rande der Städte. Hier lebt die Musterfamilie ihr individuell normiertes Leben. Die phantasielosen Betonfassoden spiegeln den monotonen Arbeitsallltag ihrer Bewohner. Durch Tiefgaragen und Luftschutzkeller erreicht man das Block-Réduit. Künstliche Wohnlandschaften dehnen sich etagenweise aus. Stacheldrahtartig bewachen Sukulentenkulturen die Fenstereingänge. Als Beobachtungs und Ueberwachungsposten, der durch neutrale Blumenkistchen getarnt wird, dient die Terasse, von wo aus sich bequem ein Fernrohr auf das seltsam fremdartige Leben des Nachbars richten lässt. Der Kontakt zur Aussenwelt wird mittels Funk, Telefon, Radio, Fernsehen oder Abhörvorrichtung aufrecht erhalten. Die zwischenmenschliche Kommunikation ist durch Medienkonsum verdrängt worden. Vorgestanzte Sprach- und Verhaltensnormen versperren den Zugang zum Andern. Völlig aussengeleitet, verkommen die Menschen zu abhängigen Befehlsempfängern von wirtschaftlich gesteuerten Apparaten. Konzernchefs lenken die (Konsum-)Wünsche des Arbeitnehmers und nehmen ihmdas Denken ab. Für unangepasste Versager ist die «Psychiatrie-Polizei»zuständig. Angst, Misstrauen und anonyme Massenvereinsamung bestimmen den athmosphärischen Gefühlsraum. Der Zugang zum eigenen Selbst, zur Vergangenheit und damit zur erlösenden Trauer ist blockiert.

Grauzone

So erlebt das kinderlose Ehepaar, Alfred und Julia, die Welt. lsoliert in ihrer Blockzelle müssen sie gemeinsam das Wochenende verbringen. Alfred entdeckt in einer Tageszeitung ein anonym eingeschmuggeltes lnserat, das auf Symptome einer umsichgreifenden «Epidemie» aufmerksam macht. Auch Radio und Fernsehen berichten laufend über die seltsame Epidemie und deren Auswirkungen. Bundesrat, Krisenstab und Armee sind in Alarmbereitschaft versetzt worden. Schliesslich wird versucht, durch einen totalen Nachrichtenstop, das Ausbrechen einer Massenhysterie zu verhindern. Symptome dieser Epidemie, wie sie überall beobachtet werden und zu erkennen sind: Das Eingesperrtsein in zu kleinen Wohnungen, Strassenschluchten, Autokolonnen, vollklimatisierten Bürotrakten verstärkt das Bedürfnis nach Freiheit zum unwiderstehlichen Drang auszubrechen – ins Freie zu gehen. Die Verbetonierung ganzer Landstriche treibt die Menschen in die abgelegensten Winkel, wo sie hoffen, allein noch ein Stück unberührte Natur vorzufinden. Am Ort dieser Sehnsucht angelangt, versinken die von der Epidemie befallenen Menschen ohne ersichtlichen Grund in tiefe Trauer. Ihre Haut wird dünner und ihr Erinnerungsvermögen setzt vorübergehend aus. Ein traumloser Schlaf überwältigt sie, aus dem sie sich nur durch eine «freiwillige» Tat erretten können.

«lch weiss zwar nicht, wo sie stehen, was sie denken, aber ein Volk, das an einer Volksabstimmung gegen die eigene Mitbestimmung stimmt, das hat es, seit die Griechen die Demokratie erfunden haben, noch nie gegeben. Entweder ist unser Selbsterhaltungstrieb schon degeneriert, oder die Oligarchien sind in der Überzahl. In beiden Fällen habe ich eingesehen: da gehöre ich nicht mehr dazu. Ich habe meine Wohnung zur Republik erklärt, wenn ich aus dem Haus gehe, bin ich im Ausland. Darum brauche ich auch kein Radio und keine Zeitungen mehr. Oder haben sie schon mal einen Republikaner gesehen, der sich fürs Ausland interessiert hat? Ich bin ein Ausländer, ein Fremdarbeiter: Keine Rechte, keine Pflichten.» (Taxifahrer in Grauzone)

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Alfred, die Hauptfigur des Films, der als Sicherheitsbeauftragter in einem Konzern arbeitet und dort seine Erfahrungen als Nachrichtenoffizier und Hobby-Tonjäger für die konzerninterne Überwachungs- und Abhöranlage einsetzt, beginnt die Geschehnisse bezüglich der Epidemie an diesem Wochenende immer aufmerksamer zu verfolgen, wozu ihn zunächst vor allern die widersprüchlichen Nachrichten und Meldungen anregen. Dann aber findet er auf einmal überall Anzeichen dieser gefährlichen «Gefühlserkrankung», bis er selber, bein «Abhorchen» der Natur, in tiefe Trauer versinkt. Durch seine erste «freiwillige» Tat – er entlarvt die betriebliche Abhöranlage bei Arbeitsbeginn am Montag – befreit er sich und findet den Weg zu sich selber: zu seinen wahren Gefühlen.

Fredi Murer hat die schwer fassbare, konturlos graue Alltagsrealität der schweigenden Mehrheit in konkrete Bilder gefasst. Er hat Grundängste formuliert und die Auswirkungen an einzelnen Personen exemplarisch dargestellt. Murers (literarische) Nachrichtentexte im Film sind feinsinnig erarbeitete Konzentrate von täglich hör- und lesbaren Phrasen der bewusstseinssteuernden Massenmedienindustrie, die mehr verschleiern und einschläfern als informieren. Die langsarnen, beobachtenden Kamerafahrten und die in feinen Grautönen abgestuften Bilder evozieren ein Klima allgegenwärtiger Bedrohung und Überwachung.

Bild und «Texte» ergäinzen sich zur ironischen Analyse der schweizerischen Lebensbedingungen: Wirtschaftliche, poilitische und psyhische Ängste schaffen ein Klima, in dem der individuelle Erstickungstod droht. Diese Alltagsrealität der schweigenden, angepassten Mehrheit in ironischer Weise sichtbar gernacht zu haben und mögliche Formen der Verweigerung und des Widerstands aufgezeigt zu haben, macht den Film zu einem zeitgenössischen Dokument scnweizerischer Lebensqualität.

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(Letztes Bild: Murer beim Dreh zu Grauzone)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/1979 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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