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A corps perdu 3

A corps perdu

Text: Claudia Acklin / 01. Nov. 1988

Sie habe immer weniger Lust, narrative Filme zu machen, meint Léa Pool und, wie mir schien, sagte sie dies ein wenig schuldbewusst. Als sei es zu viel, was sie ihrem Publikum abverlangt. Tatsächlich spielt sie mit mindestens vier Elementen in ihrem jüngsten Film A corps perdu, mit einem Stück Lebensgeschichte des Pressefotografen Pierre Kurwenal mit seinen Schwarzweiss-Fotografien, die er in Nicaragua und in seiner Heimatstadt Montreal aufnimmt, mit Rückblenden in seine unmittelbare Vergangenheit mit Sarah und David und mit einem leitmotivisch wiederkehrenden kleinen Jungen, der fasziniert ein Segelflugzeug am Himmel vorbeiziehen sieht. Aber was zu Beginn manchmal verwirrend montiert, überraschend mit abrupten Wechseln daherkommt und manchmal beinahe auseinanderzubrechen scheint, wird immer klarer, lesbarer, dichter, bis es sich gegen den Schluss hin abrundet und auflöst. Geheilt verlässt Pierre die psychiatrische Klinik, und die Spannung, die einen während des Films gefangen gehalten hatte, zerspringt die eine Luftblase. Man hat dem Wandlungsprozess eines Menschen beigewohnt, seinem Abstieg ins innere Labyrinth sein Verstummen beobachtet und schliesslich wieder seine ersten Worte vernommen: «Je suis Pierre. Die Handvoll Leute, die nach der Pressevisionierung dasassen, und vor die sich Léa Pool hinstellte, um Fragen zu beantworten, blieben stumm. Nicht weil sie durch den impressionistischen Stil von A corps perdu überfordert gewesen wären, sondern weil sie den Film ausklingen liessen.

Nach Anne Trister, die in unseren Kinos mit Erfolg gespielt wurde, erzählt Léa Pool diesesmal die Geschichte eines Mannes: Pierre Kurwenal lebt seit zehn Jahren in einer ménage à trois mit Sarah und David. In einer Zeit, in der gewagte Beziehungskonstellationen eher aus der Mode geraten sind, eine etwas utopische Ausgangssituation, die aber auch gleich zu Beginn zerstört wird: Als Pierre von einer Reportagentour aus Nicaragua zurückkehrt, findet er seine Wohnung leer vor. Ohne vorherige Ankündigung haben die beiden ihn verlassen, er leidet, ohne dessen Sinn zu verstehen. Genauso sinnlos erscheinen die Morde, denen Pierre auf seinen Reisen durch Nicaragua beiwohnt. Er fotografiert mit der Leichtfertigkeit eines Spürhundes und der Beflissenheit des Sensationsreporters, der intuitiv weiss, was auf dem Medienmarkt lukrativ sein wird: Männer werden aus einem Bus gezerrt, einige ausgesondert und abgeknallt.

A corps perdu

Per Zufall wohnt Pierre später einem Kindermord bei. Wiederum gänzlich uneinsichtig schiessen Soldaten einen kleinen Jungen vor den Augen seiner Mutter nieder. Reflexartig fotografiert Pierre, er schiesst Bilder einer verzweifelten Mutter mit totem Kind, einer südamerikanischen Pieta; Bilder, die später eine fette Mediengesellschaft mit ein paar schnellen Emotionen beliefern werden. Die Mutter schreit dem Fotografen «assasino» entgegen, «perro», Mörder und Hund. Pierre versteht ihren Ausbruch nicht. Als er später für seine «Leistungen» den Pulitzer-Preis erhält, zeugt diese Wahl von einer zynischen Logik, mit der er nichts mehr anzufangen weiss.

Zunächst benützt Pierre seine Kamera aber weiter als Waffe, mit der er David und Sarah nachstellt, sie damit auf der Strasse, in der U-Bahn, auf dem Nachhauseweg observiert. Er sucht nach einem Schuldigen für seinen Verlust. Dann beginnt er anstatt der Unterstellungen Fragen zu stellen: «Vielleicht habe ich nicht genug geliebt»: Und es drängen sich farblose Erinnerungsfetzen, triste Visionen in sein Bewusstsein, die ihn mitten in der Arbeit, in Gesprächen zu überfallen beginnen. Immer ausschliesslicher wendet sich Pierre diesen spontan auf- und wieder abtauchenden Empfindungen und Obsessionen zu. Ein immer wiederkehrendes Bild des Jungen, der einem Segelflugzeug nachsieht, lässt ihn nicht mehr los. Er fotografiert zwar weiter, aber diese Bilder sind nicht mehr die eines Pressefotografen, sie erhalten eine zunehmend künstlerische Qualität. Beklemmende Bilder von Häuserschluchten, Schlünden, Autobahnarchitektur und Stadtruinen werden zu vielschichtigen, allgemein nachvollziehbaren Aussagen.

Pierre hört schliesslich auf zu fotografieren, er lässt sich in sich selbst hineinfallen, verstummt – während einer kleinen Weile versucht er nochmals eine Beziehung zu einem stummen (!) jungen Mann – und lässt sich dann vollends gehen. In einer psychiatri sehen Klinik sucht er vorübergehend Unterschlupf. Selbstfindung heisst am Ende, die Beziehung zu den eigenen kindlichen Sehnsüchten, zur Verletzlichkeit dieser Hoffnungen, die Beziehung zum Kind, das man einmal war, wiederherzustellen. Erst dann wird das Elend der Kinder dieser Welt wieder einfühlbar, tritt Trauer anstelle von schnellem Konsum von Medientoden, verarbeitet man die Sinnlosigkeit dieser Opfer. Léa Pools labyrinthisches Puzzle läuft zu Beginn, wie gesagt, Gefahr, in seine Einzelteile auseinander zu fallen. Das Leben in einer ménage à trois wird nicht diskutiert, auch nicht die Bisexualität der beiden Männer. Sie sind als (mehr oder weniger plausibel) erscheinendes Faktum an den Anfang gestellt. Was A corps perdu den Halt und die Intensität verleiht, ist zum einen Matthias Habichs körperliche Spielweise, der in Bewegung, in Aktion umzusetzen weiss, was Pierre bedrängt. Und die Kamera von Pierre Mignot ist ein Führer durch die Kontraste von Innen und Aussen, von leuchtender Farbe und düsterem Grau.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/1988 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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