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Homme qui a perdu son ombre

L'homme qui a perdu son ombre

Tanners Film L’homme qui a perdu son ombre ist von einem gewissen postrevolutionären Charakter geprägt. Ein entsprechender Pessimismus zieht sich durch diesen Film.

Text: Pierre Lachat / 01. Okt. 1991

Vor nächstens einem Vierteljahrhundert entstand Charles mort ou vif?. Ohne grössere Unterbrüche hat Alain Tanner seither einen Film nach dem andern realisieren können. Zusammengenommen sind es nun dreizehn an der Zahl, das heisst mehr als einer in jeweils zwei Jahren geworden. Wenn also die Werke Tanners seit etwa sechs Jahren, als No Man's Land herauskam, von einem Mangel betroffen sind, dann keinesfalls von einem solchen an jener äusseren Kontinuität, über die sich so nichtssagend leicht Buch führen lässt.

Woran es hingegen immer nachhaltiger gefehlt hat, ist die folgerichtige innere Entwicklung, die Tanners Kinostücke der früheren Zeit unter die meistbeachteten ihrer Art in Europa rückte. Von La salamandre über Jonas, qui aura 25 ans en l'an 2000 und Messidor bis zu Les années lumière setzte der Autor damals überlegt Schritt vor Schritt, und es gelang ihm, so etwas wie eine breite begleitende Chronik der achtundsechziger Jahre von den aufrührerischen Anfängen bis zur resignierten Melancholie zu führen.

Wie unter Schutz

Nun ist zwar das, was sich in den vergangenen Jahren von No Man's Land bis La femme Rose Hill herausgeformt hat und was jetzt eine offensichtliche Verlängerung in L'homme qui a perdu son ombre findet, bestimmt als Ganzes von einem gewissen postrevolutionären Charakter geprägt. Ein entsprechender Pessimismus zieht sich durch diese beiden Filme wie auch durch La vallée fantôme. Und wenn Une flamme dans mon coeur wohl einen Sonderfall darstellt – und zwar in mehr als einer Hinsicht, also nicht nur wegen der Mitwirkung der Hauptdarstellerin Myriam Mezieres an Stoffentwicklung und Drehbuch –, so scheint selbst dieser Film Tanners, sein fraglos originellster aus der bewussten aktuellen Serie, geradeso von tiefer Verzagtheit erfüllt, wie die Arbeiten von vor 1980 noch mit ausgeprägten Erwartungen Ausschau nach dem Jahr 2000 hielten.

Die Frage ist dann allerdings, ob das offensichtliche Fehlen jeglicher Zuversicht in den Filmen des neueren und sichtlich blasseren Werkabschnitts – also die Absenz von etwas statt seiner Präsenz – überhaupt noch eine umspannende thematische Klammer im eigentlichen Wortsinn abzugeben vermag. Die entsprechenden Kinostücke wirken wie unter besonderen Schutz gestellt und dementsprechend isoliert, daraus resultiert wohl ihre fundamentale Schwäche. Sie haben kaum noch etwas, was sie begleiten könnten. Der Tanner der späten sechziger und der siebziger Jahre vollzog dagegen noch mit gleichsam seismographischer Feinfühligkeit – um nicht zu sagen mit etwelchem Anspruch auf die Rolle eines Propheten – den Aufstieg wie den Niedergang der Bewegung von Achtundsechzig mit.

Antonio und Paul

Schon der Spielfilmerstling Charles mort ou vif? fragte, ob der Tannersche Held tot oder lebendig sei, doch sah sich damals der Protagonist statt ums Leben gebracht nur bis auf weiteres, seiner Epoche voraus, in die Klapsmühle gesteckt. Die aktuelle Ausprägung jener unvergessenen Figur, der alte Spanier Antonio, wohl kaum noch auf der Höhe seiner Zeit, stirbt nun in L'homme qui a perdu son ombre, um den Kommunismus nicht überleben zu müssen, der seit den Tagen von Francos Diktatur sein ganzes Dasein bestimmt hat.

Der Heimkehrer aus langem Exil in Frankreich wertet das Ende der Bewegung, die sich von den Ideen Marxens herleitet, selbst dann als eine Menschheitskatastrophe, wenn es noch nicht unwiderruflich sein sollte. Das Debakel kann in seiner historischen Bedeutung nur noch von einem andern, viel schrecklicheren übertroffen werden, nämlich vom kommenden Zusammenbruch des Kapitalismus, den Antonio noch immer für unausweichlich hält, auch wenn er nicht länger restlos überzeugt ist, es werde dann sozusagen von allein ein System nachfolgen, das den Begriff des Eigentums überflüssig macht.

Der Verlust des Schattens, auf den der Titel des Films anspielt, meint denn nichts anderes als den Verlust der Utopie, und entsprechend ist der Begriff l'homme sowohl auf Antonio als einzelnen wie auch auf den Menschen schlechthin zu beziehen. Immer wieder negiert und zensiert, schmäht und hintertreibt unsere Gattung die Visionen von einer besseren Zukunft für das ganze Geschlecht. Dabei kann allein aus ihnen das einzig wahrhaft Erstrebenswerte, nämlich geteiltes Glück erwachsen, auch wenn es oft im Verein mit dem Übelsten einherkommt. Die Menschen sind im Begriff, unwiderruflich das irdische Paradies für alle zu einem Ding der Unmöglichkeit zu erklären, zum einzig realisierbaren hingegen eines für die schon immer reich gewesenen wenigen Glücklichen oder auch nur scheinbar Glücklichen. Anders gesagt, sie sind kollektiv versucht, vor ihren eigenen verderblichsten Neigungen zu kapitulieren und sie sogar zu den edelsten zu erheben.

Dem sterbenden Charles mit Namen Antonio tritt der junge Franzose Paul zur Seite. Weder heisst diese wiederkehrende Figur bei Tanner zum ersten Mal so, noch ist sie erstmals in seinen Filmen ein junger Mann, der sich mit einem Alten auseinanderzusetzen hat, und im übrigen könnte er auch statt eines Franzosen leicht ein Schweizer sein. Ohne recht zu wissen, was er von dem Spanier erwartet, lässt Paul Frau und Kind in Paris zurück und reist dem Alten ins unansehnliche Cabo de Gata nach, einem Nest an der Mittelmeerküste. Seine Tage verbringt der Fremde in diesem neuen no man's land mit Nachdenken und Motorradfahren und fruchtlosem Warten auf Erhellung. So leer und rastlos-ratlos hat die Figur des Paul noch nie zuvor bei Tanner gewirkt. Unerbittlich streng, billigt der Autor dem Nachwachsenden kaum mehr zu, als dass er herauszufinden versuchen darf, was es denn sein könnte, wonach er zu forschen sich vage gedrängt fühlt.

Anne und Maria

Hinter Antonio und Paul, die einander kaum noch viel zu bedeuten haben, weil der Ältere sowieso sein Ende nahe weiss, treten die beiden Frauen hervor. Mehr noch, die aktuellen Ausprägungen des feuerfesten Weibes aus La salamandre und der erotisch-lebensfrohen Myriam Mezieres aus Une flamme dans mons coeur stellen die beiden Männer kalt in den Schatten. Pauls Frau Anne reist ihrem Mann nach, wie er Antonio nachgereist ist, und nimmt dabei Maria mit, die einmal die Freundin des einen wie des andern war.

Sie scheint dazu ausersehen, den Zugang in die scheinbar verschlossene Welt des scheinbar verschworenen Männerduos zu öffnen. Doch wird dem hinzukommenden Frauenpaar bald einmal bewusst, dass es beim Gegengeschlecht kaum noch etwas vorzufinden, geschweige denn zu begreifen gibt. Hingegen bildet sich jenseits unvermeidlicher Rivalität in der Liebe – aber auch jenseits jeder Homophilie – zwischen Anne und Maria eine intuitive Schwesterlichkeit heraus. Was schon in Une flamme dans mons coeur angedeutet ist, nimmt jetzt gleich doppelte Gestalt an – und gewinnt entsprechenden Nachdruck –, nämlich dass Tanner den Frauen längerfristig die besseren Aussichten einräumt als seinesgleichen.

Der Gedanke wird nun auch weiter und genauer gefasst, indem erstmals das Ende der Männerherrschaft mit dem Verlust der Utopie zusammengebracht wird. Weil satter in ihrer Körperlichkeit aufgehoben, leben Frauen vergleichsweise unbekümmert und lassen sich viel weniger stark von dem vermaledeiten Trieb leiten, um jeden Preis Visionen entwerfen und Konzepte umsetzen zu müssen. Sie haben letztlich, heisst das, einen etwas kürzeren Schatten zu verlieren. Von daher ist das ominöse l'homme im Titel des Films wohl auf den Helden Antonio und ebenso auf unsere gesamte Spezies gemünzt, doch will das Wort in seiner Bedeutungsvielfalt natürlich auch als der Mann verstanden sein. Und sollten tatsächlich matriarchale Tendenzen in Zukunft vorherrschen, dann wird möglicherweise auch die Utopie an Bedeutung einbüssen, und der Marxismus wird vom bärtigen Gründervater bis zum schnauzbärtigen moskowitischen Grosstyrannen weitgehend eine Angelegenheit starker oder eben nur scheinbar starker Männer gewesen sein. Ist bei ihnen der Kommunismus etwas, was in den Köpfen steckt, birgt eine Frau, wer weiss, Entsprechendes möglicherweise in ihrem Körperempfinden.

Am Ende der Vorhaben

In diesem letzten und entscheidenden Punkt freilich gerät die Herleitung Tanners, die bis dahin mit unmerklicher Eleganz, aber trotzdem recht konsequent von Antonio zu Anne zu Paul zu Maria geglitten ist, etwas diffus und unschlüssig. Trotz spürbarer Empathie zwischen den Frauen wissen schliesslich keine zwei von den vier Figuren wirklich etwas Konkretes miteinander anzufangen. Was die überlebenden wollen können oder gar wollen werden, lässt sich nicht einmal ahnen. Die Trauer um Antonios Sterben überschattet rundweg alles. Doch sollen die Leute ja auch, wenn einer ans Ende seiner Vorhaben gelangt, von den ihren schweigen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/1991 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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