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Seriat – Familie Tütüncü in der Fremde

Zwei Filme in einem Film: Urs Graf und Marlies Graf Dätwyler lassen die in Olten lebende türkische Familie Tütüncü von ihrer Kultur, ihrem Leben, ihrer Religion, dem Islam, berichten.

Text: Verena Zimmermann / 01. Feb. 1991

Zwei Filme in einem Film: Urs Graf und Marlies Graf Dätwyler lassen die in Olten lebende türkische Familie Tütüncü von ihrer Kultur, ihrem Leben, ihrer Religion, dem Islam, berichten. Marlies Graf hat mit den Frauen zusammengearbeitet, Urs Graf mit den Männern. Der weibliche und der männliche Blick kreuzen sich.

Ein Haus an der Strasse Olten – Dulliken, im Hintergrund der Kühlturm von Gösgen. Resmiye Tütüncü, die Frau des Präsidenten des Türkisch-islamischen Vereins Olten, rollt, hauchdünn, den Teig für das Baklava-Gebäck aus. Zu Resmiye sagte ldris: «Du musst». Mir erklärt er: «Frauen sollen ihren Blick gesenkt halten. Männer sollen den Frauen nicht ins Gesicht schauen.»

Wir sind schon weit im Film Seriat von Urs Graf und Marlies Graf Dätwyler, denen die Familie Tütüncü – Vater, Mutter, Saniye und Hatice, die Töchter, und lbrahim, Saban, Murat, die Söhne – auf des Vaters Geheiss - denn nur er kann befehlen und erlauben - von sich, ihrem Leben in der Schweiz, vor allem aber von ihrer Religion, dem Islam sunnitischer Richtung, von ihrer Kultur erzählen. Erzählen, das heisst hier, vor allem bei den Frauen, mit denen Marlies Graf gearbeitet hat: gegenwärtig sein, im Bild etwas zeigen. Resmiye zeigt, wie sie Baklava zubereitet, die türkische Süssigkeit, eine Spezialität, «auf die sie stolz ist», sagt Marlies Graf. Saniye, die erwachsene Tochter, legt vor der Kamera ihre selbstgefertigte Aussteuer aus, die Tischtücher, die Deckehen, die Kopftücher, bestickt und am Rand umhäkelt, die zum Verschenken an Verwandte und Freundinnen bestimmt sind. Und sie erklärt, warum sie gemäss der Tradition ihr Kopftuch trägt. Davon spricht sie. In den Traditionen ist ihre Identität verwurzelt. «Ich weiss, warum ich das Kopftuch trage», sagt Saniye. Anderes spüren wir, sehen es: ihr Ungeschütztsein auf dem Weg von der Arbeit, auf dem Bahnhof, im Zug. Bei der Arbeit in der Druckerei, beim Falten der illustrierten Zeitschriften bei Ringier.

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Seriat – Familie Tütüncü in der Fremde. Begonnen hatte es für Urs Graf und Marlies Graf Dätwyler vor acht Jahren mit dem Plan, einen Film über den Islam, über Anhänger des Islam, die in der Schweiz leben, zu drehen. Das Projekt machte viele Phasen durch. 1986 zeichnete sich konkret die Zusammenarbeit mit der bei Olten lebenden Familie Tütüncü ab. Bis zum ersten Bild, das die Autorin, der Autor mit Hans Stürm, der mit seiner Kameraarbeit den Film mitgeprägt hat, aufgenommen haben, dauerte es. Etappen des Weges der Annäherung hat eine im Kunstmuseum Solothurn gezeigte Ausstellung (eingerichtet anlässlich der Filmtage von Hanspeter Rederlechner und Verena Zimmermann) mit Fotos und Arbeitsmaterialien Urs Grats und Marlies Grats skizziert.

Von diesem Sich-Annähern erzählt auch der Film. Das schrittweise Sich-Näher-Kommen hat die Dramaturgie der Montage, des Ablaufs bestimmt. Die Bilder, die Texte bewegen sich in diesem unmerklichen Zwischenraum, wo sich zwei Kulturen begegnen: die der Autorin, des Autors, das heisst, unsere Kultur, die der Schweiz, mit der Kultur der «Fremden», die aufgrund ihrer Religion den Männern einen Bereich, den Frauen einen anderen zuweisen. Das hat, auf der Männer-, auf der Frauen-Ebene, zu unterschiedlichen Kommunikationsformen, zu unterschiedlichen Bildern geführt.

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Den Schweizern ein richtiges Bild von uns geben, sagt ldris, und dafür springen er und seine Familie über den eigenen Schatten. Denn: «Männer sollen den Frauen nicht ins Gesicht schauen.» Aber Resmiye, Saniye sollen ertragen, dass die Kamera ihnen ins Gesicht sieht. Dass wir ihnen ins Gesicht schauen. Augen-Blicke: Für uns sind sie selbstverständlich, ein Weg der Kommunikation. Jemandem in die Augen schauen: Das kann ein Gespräch eröffnen, eine Freundschaft, eine Liebe, ein Streitgespräch. Es signalisiert Begegnung.

ldris und Resmiye und Saniye kommen uns entgegen. Sie machen es uns leicht. Gleichzeitig fordern sie uns heraus, ob sie es wissen oder nicht - aber ich denke, sie wissen es, wenn sie darüber vermutlich auch nicht diskutieren würden. Sie erklären uns ihre Kultur, ihr Verhaftetsein im Islam mit seinen strengen Gesetzen: Wir stossen, beim Zusehen, beim Zuhören auf unsere eigenen Prägungen, unsere Vorurteile, auf unsere Überzeugungen, Gewohnheiten. Wir fühlen uns ständig im Widerspruch. Aber wir merken auch, wie sehr wir die Fremden sein müssen für jene, die wir für die Fremden halten.

Marlies Graf, Urs Graf schleifen hier keine Kanten weg. Sie füllen die Kluft zwischen den Kulturen, die aufeinandertreffen, nicht auf. Auch wenn sie Verbindendes zeigen und von Verbindendem ausgegangen sind. «Die Musik zum Beispiel», sagt Urs Graf, «ist etwas, was wir gemeinsam haben. ldris hört die Sufi-Musik, Saniye und Resmiye hören sie, wir lieben sie.» Auch wenn, streng dogmatisch, die Mystik, die in dieser Musik anklingt, den Muslims "verboten" ist. Aber, zitiert Urs Graf ldris im Film: «Die Derwische machen schöne Musik – Musik, bei der man nichts Schlechtes denken und nichts Schlechtes tun kann.» Idealismus? Eine utopische Sehnsucht?

Sehnsucht schwingt mit in Seriat, wieviele Widerstände die Bilder auch herausfordern, wieviel Ungereimtes, Gegensätzliches sie aufzeigen. Sehnsucht erwächst aus der Erfahrung von Widersprüchen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/1991 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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