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Hors saison 3

Hors Saison (Zwischensaison)

Vielleicht muss man, um den neuen Film von Daniel Schmid wirklich von Grund auf (also nicht nur obenhin) zu verstehen, die deutschsprachigen Micky-Maus-Hefte der fünfziger Jahre kennen, oder man muss sie sich mindestens vorstellen können.

Text: Pierre Lachat / 01. Okt. 1992

Vielleicht muss man, um den neuen Film von Daniel Schmid wirklich von Grund auf (also nicht nur obenhin) zu verstehen, die deutschsprachigen Micky-Maus-Hefte der fünfziger Jahre kennen, oder man muss sie sich mindestens vorstellen können. Mehr noch, es ist möglicherweise unabdingbar, dass man sie nicht heute noch rasch nachlesen geht oder sie irgendwann zwisehen damals und jetzt zufällig gelesen hat, sondern dass man mit ihnen eben von jener Zeit selbst her noch vertraut ist (und also immer geblieben ist), als sie noch neu waren. Und sei das nur aus dem einfachen praktischen Grund der Fall, weil sie eben heute so leicht gar nicht mehr zu finden sind (was ein Nachlesen äusserst schwer macht).

Hors saison, ein Film zur falschen Jahreszeit, wie der Titel es eigentlich schon nahelegt, findet jedenfalls die fraglichen Hefte nicht. Kein einziges Mal bekommen wir sie wirklich zu Gesicht, auch wenn sie im Dialog eine prominente Rolle spielen. Persönlich war ich beim Anschauen von diesem Ausgang der Sache reichlich frustriert. Denn offenbar nicht anders als der Autor habe auch ich aus der genannten Zeit die fraglichen Comics als eigentliche Kunstwerke in Erinnerung. Doch habe ich leider mit ihm, so darf ich annehmen, auch dieses andere gemeinsam, nämlich leider kein einziges der heute vermutlich enorm gesuchten Magazine aufbewahrt zu haben.

Alles irgendwann verloren, verschenkt, verramscht, in allzu vielen hastigen Umzügen untergegangen, vielleicht gestohlen worden. Das Falsche bewahrt man immer auf.

Der MacGuffin oder Dingsbums

In jungen Jahren habe ihm eine Dreiminuten-Single mehr Sprache beigebracht, als es ganze Lehrpläne zu tun vermochten, singt Bruce Springsteen in einem seiner Songs. Die Sprechblasen Mickys und Donalds waren damals eigentliche poetische Gebilde, über die heute Abhandlungen geschrieben werden (geschrieben werden sollten). Sie könnten nicht nur mich mehr Deutsch gelehrt haben als die lückenlos absolvierte Volksschule, die kaum imstand war, einem zum Beispiel die korrekte Aussprache des deutschen «eh» vor «a», «o», «u» und «au» beizubringen.

Schmid dienen die fraglichen Comics als eigentlicher MacGuffin oder Dingsbums. Der mehr oder weniger autobiographische Held seines Films, der Erzähler, macht sich auf die Suche nach ihnen. Und erst das bringt ihn dorthin, wo der Autor ihn haben will, in das Hotel, das der Schauplatz von Schmids Kindheit war. Aber es genügt dann nicht, dass der Held die famose Sammlung grausamerweise findet. Was das Messer in der Wunde umdreht, ist der Umstand, dass sie dann der Kamera nicht vorgeführt wird. Und das hätte eine wunderbare Bildsequenz in prachtvollen Farben abgeben können, mit dem Besten, man stelle sich bloss vor, aus so vielen wunderbaren Jahrgängen!

Hors saison 1

Indessen gibt es vielleicht für die krasse Unterschlagung, die da verübt wird, zwar keine ausreichende Entschuldigung, aber immerhin eine vielsagende Erklärung (die keinesfalls etwa darin bestehen kann, die fraglichen Comics seien deutsch, der Film aber in seiner Grundsprache französisch). Und zwar leitet sich das fragliche Verständnis nicht von der Sache selbst, sondern vom weitem Charakter des Films her.

Es könnte in der Tat sein, dass ein Herzeigen des endlich aufgetriebenen MacGuffin etwas zu Konkretes, Greifbares gewesen wäre: eine allzu deutliche Spur aus geisterhafter Vergangenheit, auf die man den Finger hätte legen können und welcher so etwas wie Beweischarakter zugekommen wäre. Und das hätte in einem so fein ziselierten, durchsichtigen Film schon zu viel des Eindeutigen, Nachprüfbaren bedeutet.

Untergang im Gestrigen

Denn am Bleibenden, also auch am Übriggebliebenen, und sei's etwa bloss ein Micky-Maus-Heft von 1953, das die Zeit überlebt hätte, liegt Hors saison weniger, als je zuvor einem Film Schmids an etwas Dauerhaftem gelegen ist. Alles scheint mehr denn je flüchtig oder schon entflohen, vergänglich und vergangen. Wiederkehrende dominieren die Szene, und es zählt einzig, was sich wohl in Erscheinungen (doch nirgendwo in Fleisch und Blut) materialisiert, aber dann prompt wieder entmaterialisiert, gefolgt von einer nächsten Epiphanie, die dann ebenso entschwindet. Wir sehen alle die, die das Leben des Knaben Valentin im Hotel bestimmen und beeinflussen, die ihm ihre Geschichten vorspielen und erzählen.

Hors saison 2

Dieses rhythmische Aufeinanderfolgen von Visionen von ehedem hat, nicht zuletzt dank raffinierter Flashback- Technik, etwas Hypnotisches und zieht einen zweifellos tief in Bann, auch wenn die maximale Dichte, die die Figuren erreichen, nur Augenblicke dauert. Das Panorama, das so entsteht, hat seinen poetischen Wert in sich, und das Ganze ist von einer warmen, humorvollen Gelassenheit getragen. Was einen dennoch beschäftigen, ja bestürzen kann, ist das Exklusive des Blicks zurück, diese Vergangenheit, die keine Entsprechung in einer festgefügten Gegenwart, geschweige denn in einer Zukunftsaussicht egal welcher Art mehr findet, sondern die wie zum Hohn im Gegenteil öfter gar noch die Vergangenheit der Vergangenheit bemüht!

In Jenatsch schien der Held, der seinerseits auf sehr vergleichbare Weise mit Vergangenem konfrontiert wird, noch recht lebendig zu sein, weil es eben ein ihm fremdes, rätselhaftes Früher war, welches er zu Gesicht bekam. Il bacio di Tosca, Schmids Reportage aus einem Mailänder Altersheim für Sänger und Musiker, hatte die Unmittelbarkeit an sich, die dem Dokumentarischen im allgemeinen zukommt. Hors saison geht im Gestrigen morbid unter und landet in einem Bereich, den der Titel unfreiwillig suggeriert, nämlich ausserhalb der richtigen, in einer falschen Jahreszeit oder gar keiner, irgendwo zwischen den ersten lichtlosen Tagen und dem ersten Schnee.

Die einzige Heimat

Der blasse, schmale Sami Frey, der ein wenig für Schmid heute steht, verkörpert ideal die Dünnheit und Durchsichtigkeit der Gegenwart, ihr fast völliges Fehlen. Er wirkt, um es härter zu sagen, schon fast selber wie einer der Hotelgeister, ein Wiederkehrender, ein Zeitreisender aus einer unbekannten Zukunft, der in die Gegenwart von gestern zurückreist, aber nicht um etwas Neues aus dem Alten zu erfahren, sondern um das Alte wieder neu zu erfahren und weil dort, im Damals, vielleicht seine einzige wirkliche Heimat und Behaustheit verborgen liegt oder lag.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 4/1992 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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