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Sennen-Ballade

Den Gegebenheiten in der Ostschweizer Sennenfamilie Meile billigt Sennen-Ballade keinerlei repräsentativen, vorbildlichen oder nostalgischen Wert zu. Sie erscheinen so, wie sie sind, was das auch heisst. Sie bleiben sogar weitgehend ohne absichtsvollen essayistischen Kommentar, ausser an den Stellen, wo sich ein solcher von selbst aus den Bildern ergibt.

Text: Pierre Lachat / 01. Dez. 1996

Der dritte in allen Teilen selbstmanufakturierte Bericht Erich Langjahrs aus der Suisse profonde (nach Ex voto und Männer im Ring) idealisiert nichts. Den Gegebenheiten in der Ostschweizer Sennenfamilie Meile billigt Sennen-Ballade keinerlei repräsentativen, vorbildlichen oder nostalgischen Wert zu. Sie erscheinen so, wie sie sind, was das auch heisst. Sie bleiben sogar weitgehend ohne absichtsvollen essayistischen Kommentar, ausser an den Stellen, wo sich ein solcher von selbst aus den Bildern ergibt. Auch geht es höchstens in zweiter Linie darum, ethnographisch für die Nachwelt zu inventarisieren, was kaum eine Aussicht hat zu überleben. Das Pfeiferauchen beim Käsen, wie es der Senn Meile pflegt, dürfte jedenfalls unter künftiger Brüsseler Hoheit nicht länger zu dulden sein.

Brauchtum ist eine Sache, mit der man es sich zu leicht machen kann. Denn es kommt vor, dass mehr in ihr steckt als gewöhnliche Volkstümlichkeit oder gar wohlfeiler Ethno – unter diesem Titel ist ja die Folklore jüngst (dank Kitschdesignern) auf dem Aussterbeetat der Vollvermarktung angelangt. Ob das Brauchtum als echt gelten darf oder nicht, ist zweitrangig. Entscheidend ist, was es indirekt auszusagen vermag über die innere Verfassung unserer Lebensweise, nachdem sie sich seiner entledigt hat, um an seine Stelle immer neue massenhaft erzeugte Surrogate zu setzen.

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Die Empathie unter den Kreaturen

So beinhaltet die Frage nach dem Brauchtum eine andere, nämlich die nach der Integrität unserer Lebensweise oder eben nach den Schäden und Mängeln, unter denen sie leidet. Das Kernmotiv des Films bilden die Menschen in ihrem rhythmischen Pendelgang zwischen Natur, Animalität und Kultur. Man sieht, gegen den Schluss hin, wie sich gemäss örtlichem Winterbrauch Männer in Bäume verwandeln, in hohe, starke, schuppige Gewächse. Kinder und Erwachsene haben zu den Ziegen, Schafen, Kühen, Hunden, Katzen, Pferden und Schweinen auf dem Meileschen Hof nicht etwa «ein noch ganz unverfälschtes Verhältnis», wie alle Welt so klischiert daherschwadroniert, oft genug in der affigen Verzückung des gaffenden Touristen aus der Stadt. Vielmehr strahlen sie selber noch so etwas wie eine animalische Präsenz aus (im vornehmsten Sinn dieses Ausdrucks, wohlverstanden).

Denn da herrscht diese Ruhe, der Gleichmut, oftmals ein langes gemeinschaftliches Schweigen. Da hat man sich eine dicke Haut zum Schutz vor Zeit und Hast zugelegt und die Gabe erworben, einander gewähren zu lassen und sich um die Zukunft wenig zu kümmern. Das Vieh ist ja nicht unendlich anpassungsfähig. Entweder es fühlt sich in seiner Umgebung wohl, oder es geht zu Grunde. Einzig unsere Spezies bildet sich etwas ein auf die Fähigkeit zur Anpassung, aber nur, weil ihre Angehörigen so oft bloss innerlich zu Grunde gehen. Nach aussen hin scheinen sie Ungeahntes auszuhalten. Bei den Meiles herrscht zwischen der humanen und der subhumanen Kreatur mehr als Toleranz, es herrscht eine selbstverständliche Empathie. Sie ist viel inniger, als es selbst den Geschöpfen auf der höherentwickelten Stufe bewusst wird.

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Den Motiven ihren Sinn zurückerstatten

Trotzdem waltet auf dem Hof nicht einfach jene dumpfe Naturwüchsigkeit, von der die Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts sprachen und die den Schwarmgeistern aller Epochen behagt. Wenn die Sennen eintauchen ins Reich der Pflanzen und Tiere, um eins zu werden mit der Natur, so rücken sie hinterher ihr eigenes Dasein auch wieder in gemessene künstlerische Distanz. Der gemächliche Alpaufzug, mit dem sie im Frühjahr, angetan in Trachten mit eigelben Hosen, das Vieh zu Berge treiben, verdichtet sich zum Bild. Für die langen Monate des Winters ergibt es dann das Motiv zu einem Konspekt aus gemaltem Hintergrund und vornedran montierten Schnitzfiguren: zu einer dreidimensionalen Abbildung von grösster Raffinesse. Naive Kunst nennen’s die Kritiker und Historiker gönnerhaft, weil’s von Tölpeln stammt. Es ist Kultur in höchster Form.

Die grobe schwielige Hand des Sennen, die die zerbrechlichen Kühlein und Hündchen aus weissem Holz zärtlich streichelnd zuschneidet, gehört zu den magischen Momenten. Da rückt ganz unerwartet das sonst so schweigsame Menschentier mit seiner sehr eigenen, höchst differenzierten und beredten Sprache heraus. In jedem Dokumentarbericht von der Stange würde sich ein gleiches Bild hoffnungslos kitschig ausnehmen, um nicht zu sagen nach BluBo aussehen. Doch vermag Dokumentarismus gerade auch das (ab und zu), nämlich einem Motiv seinen eigentlichen Sinn zurückzuerstatten und es wieder in seinen wahren Zusammenhang zu fügen. Wie die Teile der Sennen-Ballade – erst Frühling und Sommer, dann Herbst und Winter – einander bedingen, beleuchten, erläutern und erweitern, das hat schon lange kein Eidgenosse mehr mit so viel simpler Wirksamkeit zu Wege gebracht.

Mehr als ein Vierteljahrhundert lang, seit Die Landschaftsgärtner von Kurt Gloor, haben die Sennen und sonstigen Bergler im hiesigen Kino eine Sonderrolle gespielt (über Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind von Fredi Murer und Die Insel von Martin Schaub bis jetzt). Die Darstellung Langjahrs ist von allen die lauterste und naivste, man möchte fast sagen: die einzig wahrhaft bäurische und organische, sogar naturnahe. Alles vollzieht sich frei von Absicht, ohne Eingriff, jenseits der Frage nach Standpunkt und Autorenschaft, allein aus dem Material heraus. Der Film scheint sich wie von selbst zu generieren. Aus dem Minimum das Maximum.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/1996 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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