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Ghetto

Ghetto / Tierische Liebe

Zwei Filme aus der Kategorie des «Hirnverbrannten» – einer aus der Schweiz und einer aus Österreich. Ghetto wie Tierische Liebe verraten ein wachsendes Bedürfnis, die engen strengen Schranken und Formeln der Gattung Dokumentarfilm zu überschreiten.

Text: Pierre Lachat / 01. Apr. 1997

In diesem Land, aus dem so selten etwas Hirnverbranntes kommt (im geistig gesunden Sinn des Wortes), macht er die verrücktesten Filme. Schon wie sie entstehen, wirkt schizophren. Denn wohl heisst der Autor von Restlessness, Well Done und jetzt Ghetto – Thomas Imbach. Er ist 36, aber er hat mehr als einen Partner und Mentor, nämlich eine Projektionsfigur und einen Schatten, um nicht zu sagen einen Vater von 59 Jahren. Jürg Hassler ist Kameramann, Monteur, emeritierter Achtundsechziger und politischer Dokumentarist.

Der Ältere ist beim Drehen wie beim Schnitt häufiger dabei, als es einem Autor passen kann. Wer macht nun den Film, fragt sich der Jüngere oft. Jedesmal muss er sich vorsagen: ich! Von ihm haben die Filme ihre Hast, die suchende, getriebene, zerfahrene, ruhelose Form. Die restlessness ist das gerade Gegenteil des bedächtigen, geduldigen Hinblickens, das als Kardinaltugend des Dokumentarismus gepriesen wird, und sei’s bloss, um das Schinden von Laufzeit zu entschuldigen. Von Hassler kommt das Auge für das Dasein hier und heute, das Gespür für den schweissigen Dunst der Erdenküche.

Well Done stellt ein Stück Diesseits am Beispiel einiger Zürcher Bänkler dar, Ghetto das seine an dem einer Handvoll Jugendlicher in einem Vorort am Zürichsee. Aber keiner der beiden Filme versucht, seinen Gegenstand auf ein paar verwertbare Aussagen von strammer journalistischer Griffigkeit zurückzustutzen. Sie geben weder ein Abbild noch eine Interpretation von der Welt, sondern lassen sie durch den alchemistischen Schmelztiegel, der sie pulverisiert und neu erschafft. Fast immer hautnah auf den Figuren, kehren Bild und Ton die andere Seite der Realität hervor, keine verborgene, sondern eine vernachlässigte. Es ist das, was wir wahrnehmen, aber nicht aufnehmen und behalten. Und es entspricht dem, was gemeinhin als unwichtig unter den Tisch fällt oder gar nicht erst vor die Linse kommt.

Von einem fortlaufenden Gespräch etwa und ähnlichen Vorgängen, die ungeschnitten oder konventionell montiert ablaufen müssten, bleiben nur die Spickel, Splitter und Schnipsel. Sie sind konsequent gegen den Strich ausgewählt und sprunghaft geschnitten: eine Handbewegung, der Blick auf eine Landschaft, ein missratener Satz, ein Gedanke, drei, die gleichzeitig losreden, ein betretenes Schweigen oder schallendes Gelächter, die flüchtige Wahrnehmung eines Augenblicks.

Da kristallisiert sich nichts Informatives heraus, doch entrollt Ghetto in sechs Abteilungen ein so jetziges wie zeitloses Panorama. Ghetto, Auto, Techno, Sex, Drugs, Marroni, so heissen die Kapitel. Sie legen dar, wie es einem zumute sein muss, an diesem bestimmten Ort, zu dieser bestimmten Zeit, halbwüchsig von der Schule weg einen Anfang im Berufsleben zu suchen. Aber das Entscheidende ergibt sich erst aus etwas anderem – was es nämlich überhaupt bedeutet, die letzten Tage der Kindheit zu verbringen und seine ersten Schritte als Erwachsener zu tun, auch geschlechtlich, in allem.

Tierische liebe2

Liebe deinen Übernächsten

Beim Nachbarn Österreich, dem das Hirnverbrannte leichter von der Hand geht, ist es Ulrich Seidl, der die verrücktesten Filme macht. Tierische Liebe heisst seine Ballade auf das Wien der Haustierhalter und ihrer Hunde oder sonstigen kleinen Lieblinge. Auf Anhieb sticht das Ausbleiben eines obligaten Klischees ins Auge. Es fehlt jedes Bild vom heimeligen Kot auf den Strassen der Grossstadt. Eher schon, als dass ein Köter auf den Asphalt kötete, ist einmal Zweibeiner vor laufender Kamera auf der Sitzbrille zu bewundern.

Auch sonst wird auf die Tiere kaum eigens geachtet, sondern sie erscheinen allein im Bezug zum Menschen. Einzig zählt, wie die vernunftbegabte Kreatur der unvernünftigen auf den ausgehungerten oder verfetteten Leib rückt. Gefunden wurden Halter, die für ihre Gehaltenen eine besonders lebhafte physische Zuneigung empfinden und demonstrieren. Eine schmählich verlassene reifende Schauspielerin zum Beispiel, die den entschwundenen Treulosen vergessen will, verliebt sich in einen vorbildlich gepflegten Husky. Zwei Rentner, die auf die Auszahlung einer Erbschaft warten, halten sich solange einen Hund, dem das Gehorchen aber schwer beizubringen ist.

Überwiegend sind es Bedürftige, Unwissende, Knast- und Psychiatrieerfahrene, die in den willfährigen Vierbeinern Liebesobjekte von dankbarer Art wittern. Zum Verrat unfähig, lassen sich die Tiere lieber zerreissen, als Herrchen oder Frauchen untreu zu werden. Dein Nächster hintergeht dich bestimmt. Dein Übernächster ist dazu ausserstande, vorausgesetzt, er ist ein Hund.

tierische liebe setzt sich auf andere Weise als Ghetto über die klassische Frage nach Authentizität und Wahrheit hinweg. Wo Imbach sein Material nach Belieben verwendet und den Gegensatz von wesentlich und unwesentlich souverän ignoriert, da setzt Seidl in Szene oder tut es eben nicht, wie ihm jeweils behagt. Dass etwas so geschehen kann, wie es effektiv vor der Kamera geschieht, ist ihm, ob herbeigebogen oder nicht, Aussage und Beweis genug. Das Haustier wird ja dann auch nicht selbst zum Thema, sondern bildet den Fluchtpunkt von Einsamkeit und Unwohlbefinden der Menschen. Die beiden Qualitäten sind ja auch viel zu diffus, als dass man sie belegen könnte. Sie lassen sich als «echt» entweder aus einer Szene herausspüren oder nicht.

Ghetto wie Tierische Liebe verraten ein wachsendes Bedürfnis, die engen strengen Schranken und Formeln der Gattung zu überschreiten. Die stetige Erneuerung (beim Spielfilm selbstverständlich) wird beim Dokumentarfilm zurückhaltend betrieben und mit Skepsis beobachtet. Die Vorstellung, eine einzig richtige Methode liefere die einzig richtigen Resultate, ist tief verankert. Das Gelände jenseits der Tradition ist so weitläufig, wie es zögerlich erforscht wird. Die nötige Pionierarbeit wird, wie die beiden fraglichen Beispiele zeigen, nur einzelsprungweise geleistet.

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(Titelbild: Ghetto; zweites und letztes Bild: Tierische Liebe)

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/1997 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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