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Hirtenreise ins dritte Jahrtausend

Was in Bauernkrieg mit seiner (notabene durchaus angebrachten) politischen Härte noch handfeste Methode war, gerät schon in Sennen-Ballade und jetzt deutlicher noch in Hirtenreise ins dritte Jahrtausend zu einem empirischen Erzählen. Es folgt mehr und mehr der Intuition und dem vorgefundenen Detail und überrundet jede präparierte These. Nomaden haben keine Ziele auf der andern Seite der nächstfolgenden Etappe.

Text: Pierre Lachat / 01. Okt. 2002

Zu glauben, sie seien keiner Integration mehr bedürftig, weil ohnedies ausgestorben, ist wohl ein kommuner Irrtum. Immerhin um die dreissig soll es in der Schweiz noch geben: lauter Sonderlinge, wäre anzunehmen, die sich dem einen gewissen Problem auf ihre Weise zu entziehen verstehen. Die Wanderhirten scheinen uneinholbar entrückt, solange sie durchhalten und alle Welt sie unbehelligt ihres Weges ziehen lässt: mittellos, bedürfnislos, illusionslos.

Worin die fundamentale Schwierigkeit besteht, von der sie sich fernzuhalten versuchen, hatte Erich Langjahr vor vier Jahren eingekreist. Er tat es, in Bauernkrieg, auf eine Weise, die das Kino-Publikum nur widerstrebend wahrnehmen mochte, ja die es fast von sich zu weisen geneigt war. So sehr schien es erschüttert, physisch angewidert, von dem, was ihm da ohne jede Schonung unter die Augen gerieben wurde.

Die Zerstörung der Bauernschaft durch die Agrar-Industrie, legten die Bilder nahe, ist ein Vorgang, der in unberechenbarem Mass das Wohlergehen der Allgemeinheit gefährdet. Inzwischen handelt es sich um einen Sachverhalt, den fast tägliche Berichte in den Medien bestätigen. Mit was für rabiaten Methoden die Tiermehlfabriken, aber auch die Betriebe der Rinderaufzucht arbeiten, bot einen mehr als grauenvollen, einen schon eher endzeitlichen Anblick.

Nomaden sind nicht rastlos

Sennen-Ballade hatte zwei Jahre zuvor, 1996, mehr Anklang gefunden, sicher auch darum, weil es einen (ersten) Kontrapunkt zu der düsteren Rinderwahnsinns-Vision setzte: mit dem Porträt einer Ostschweizer Sennenfamilie, die ein Reservat von noch fast mittelalterlicher Unberührtheit bewirtschaftet und bewohnt. Die hirtenreise ins dritte jahrtausend führt jetzt über das Naheliegende und Offensichtliche hinaus, das Langjahr zu Beginn angesteuert hatte, und geht einen Schritt weiter: zu jenen ganz Wenigen noch, die den Schrecknissen der Jetzt-Zeit durch eine Art Nomadentum zu entkommen trachten.

Von drei Millennien spricht der Titel nicht etwa nur aus mehr oder weniger zufälligem kalendarischem Anlass. Sondern er tut es, um daran zu erinnern, dass die halbnomadische Lebensweise der Wanderhirten die vermutlich älteste ist, die sich in den Alpen, wie immer mager gestreut, noch antreffen lässt. Das Wort «Reise» wiederum bezeichnet die andauernde Wanderschaft der Protagonisten, mit denen der Film sich gleichmässig, ohne Hast vom Fleck bewegt.

Nomaden sind nicht rastlos, sondern von Rhythmen geleitet, die ihnen viel Gelenkigkeit abverlangen. «Ich habe einfach kein Sitzleder», sagt einer, dessen Bruder nach Chile ausgewandert ist und ihn, Thomas Landis, nachziehen möchte. In jenem weiten Land liesse sich die Art von Dasein, die ihm vorschwebt, vielleicht ganz frei in die Tat umsetzen.

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Die Kreaturen

Die Fahrten durchqueren das Aargauer und Luzerner Mittelland, die Voralpen des Tessins und die Hochalpen Graubündens und Uris. Die Chronik folgt den Jahreszeiten, von einem Winter zum kommenden und von einer Paarungszeit zur nächsten. An den dicken Wollpelzen des Viehs friert das Eis in Klumpen fest. Der Hirt übernachtet in den verschneiten Wäldern der tieferen Regionen unterm Zelt. Monate später baden die Kinder nackt im Wasser aus den Gebirgsbächen.

Die Familien sind klein, die Herden unterschiedlich gross, sie zählen bis zu mehreren hundert Tieren. Die Besitzverhältnisse sind gemischt und kompliziert. Schafe und Ziegen herrschen vor, wechselnd gesellen sich Hunde, Pferde, Esel, Maultiere, Schweine, Hühner dazu. Die Beziehung zu ihnen scheint um einiges nüchterner als zum Beispiel bei den sesshaften Meiles in Sennen-Ballade, wo ein vergleichsweise enger Lebensraum mit ihnen geteilt wird. Unterwegs hingegen gibt es häufig mehr Platz für sämtliche Kreaturen, die da mitkommen.

Überhaupt fehlt es an jeder korrekten Idylle im Sinne der gestrengen Öko-Romantiker. Selbstverständlich helfen schwere Lastwagen, Helikopter, Chemikalien nach. Der Käse scheint von höchstens mittlerer Güte zu sein. Die Schafwolle spriesst reichlich, ist aber unverkäuflich. Und von der Höhe von Cademario aus, wo Thomas Landis und die Seinen so etwas wie einen zeitweiligen Wohnsitz haben, fällt der Blick auf den höchst unsentimentalen Flughafen von Agno hinunter.

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Gravitation um die Themen

Mit seinen drei letzten Filmen hat Erich Langjahr binnen acht Jahren mehr als nur ein Panorama entwickelt, das Mensch und Natur in der industrialisierten Schweiz gegeneinander hält, frei von jedem schwarmgeistigen Eiferertum. Schritt für Schritt hat sich eine Diktion von unauffälliger Agilität dabei heraus gebildet, die sich ihrem Gegenstand inzwischen sehr eng anschmiegt und die so zum regelrechten Stil gediehen ist. Die kristallene Klarheit der Bilder und der schlichte Fall der Montage fügen sich zu einer eigenen Sprache.

Was in Bauernkrieg mit seiner (notabene durchaus angebrachten) politischen Härte noch handfeste Methode war, gerät schon in Sennen-Ballade und jetzt deutlicher noch in Hirtenreise ins dritte Jahrtausend zu einem empirischen Erzählen. Es folgt mehr und mehr der Intuition und dem vorgefundenen Detail und überrundet jede präparierte These. Nomaden haben keine Ziele auf der andern Seite der nächstfolgenden Etappe. Landis’ Traum von Chile ist bestenfalls ein vager Gedanke. Die Wanderhirten sind in eine Art Kreislauf eingeschleust, von einem Stützpunkt zum andern, aber mit dem Ausgangspunkt als letzter (und wieder erster) Station. Ob sie so tatsächlich der bürokratisierten Zivilisation entrinnen, scheint völlig offen.

Ganz ähnlich will die Erich-Langjahr-Trilogie nichts Zwingendes beweisen, sondern sie gravitiert um ihre Themen, häufiger still als laut. Sie hat die Punkte aufgegriffen und einander schlüssig zugeordnet – erstens Sennen, zweitens Rinder, drittens Hirten –, so dass jedes zu einer Verstärkung von jedem andern wird. Das ist das vornehmste Verdienst dieses Unternehmens, das mit unbeirrbarer Konsequenz durchgeführt worden ist.

Wie sagt doch einer der Wanderhirten, Michel Cadenazzi: was wir vollbringen, ist ein Lebenswerk, wenigstens heute und morgen!

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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