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Seelenschatten 1

Seelenschatten

Dieter Gränicher will mit seinem Film mithelfen, ein Tabu zu brechen. Der Regisseur, diskret im Hintergrund, setzt buchstäblich auf Stimmungen. Er fokussiert das Seelenleben der Porträtierten, ohne es zu erklären.

Text: Birgit Schmid / 01. Okt. 2002

Charles E. sitzt am Werktisch, an dem er sonst in liebevoller Handarbeit Regenbogenfische bastelt, und weint. Ein schlechter Tag hat ihn erwischt. Keine Kraft, kein Wille, kein Antrieb. Plötzlich dann doch ein Anflug von Vitalität. Wütend ist er auf dieses etwas, das ihn ausser Gefecht setzt, und das er inzwischen mit einem Begriff benennen kann: die «verschissene Depression». Dass das Leiden nicht sichtbar sei, das vor allem mache es so «verdammt schwierig». Sein Göttibub habe ihn damals noch getröstet: «Du Götti, mit einem Beinbruch geht man doch auch in die Klinik.» Erneut wischt sich Charles E. über die Augen.

Helene P. malt ein Bild mit knalligen Farben. Wie es ihr dabei ergehe, fragt die Therapeutin. Fast scheu gesteht die Patientin, Freude empfunden zu haben, ein Resultat des Telefonanrufs; Helene P. wird Grossmutter. Stunden später sitzt sie niedergeschlagen im Sofa und spricht über ihre Suizidgedanken, von den gescheiterten Versuchen, weil sie gleichzeitig für das Leben kämpfe. Einmal hat ihr Hündchen sie gerettet. Kaspar, den sie in der Klinik halten darf, ersetze ihr die Menschen. Eine treue Seele, und «das für nur zwei Würstchen am Tag».

Eine zwanzigjährige Frau bejaht, dass es mit der Sexualität in akut depressiven Phasen nicht mehr weit her sei. Ihr Freund erzählt vom Valentinstag, als er ihr erotisierende Räucherstäbchen mitbrachte, was sie ungemein aufregte. Sie hätte das Geschenk als Druckmittel empfunden und warf es einfach weg. Manchmal, ergänzt sie, fühle sie sich wie eine achtzigjährige Frau.

Die drei Hauptdarsteller im Dokumentarfilm Seelenschatten von Dieter Cränieher leiden unter schweren Depressionen. Eineinhalb Jahre lang wurden sie filmisch begleitet, berichteten in langen Gesprächen vom Dasein in Schwermut. Der vierzigjährige Akademiker Charles E. wirkt überlegt, ringt tapfer mit der Wortlosigkeit, Ironie hält ihn über Wasser. In Helene P., Mitte fünfzig, geschieden und arbeitsunfähig, begegnet man einem Häufchen Elend; hin und wieder blitzt ein Sinn für tragischen Humor auf. Die junge Frau, die das Gymnasium abgebrochen hat, will anonym bleiben und lässt sich nur von hinten oder schemenhaft filmen; bei ihr erstaunt die Erzählfähigkeit, ein Gespür für dramatisches Nuancieren.

Dieter Gränicher will mit seinem Film mithelfen, ein Tabu zu brechen. Die Aufforderung «Reiss dich zusammen!», mit denen depressivkranke Menschen häufig konfrontiert werden, bringt Ohnmacht und Unverständnis auf den Punkt. Die Depression ist die Krankheit der sich verweigernden Einfühlung. «Warum syt dir so truurig?» möchte man mit Mani Matter den Menschen in Seelenschatten zurufen, bei denen die Frage, wie es denn heute gehe, rhetorisch wird. Der Regisseur nun akzeptiert das Unfassbare der Krankheit mit all ihren unterschiedlichen Ausprägungen, indem er bewusst drei individuelle Schicksale auswählt und die Fallbeispiele nicht in einen theoretischen Diskurs stellt. Gränicher beobachtet von aussen mit dem Blick des Laien. Er schaut und hört genau hin. Er schweigt mit, wenn die Patienten zusammengesunken am Tisch sitzen, gierig an der Zigarette saugen, den Blick ins Leere gerichtet. Hansueli Schenkels Kamera geht den Pakt mit den Verstummenden ein. Wenn Charles E. sich zur Waldarbeit aufrappelt, die er im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms macht, verharrt sie auf dunklen, in Nebel gehüllten Baumwipfeln.

Gränicher, diskret im Hintergrund, setzt buchstäblich auf Stimmungen. Er fokussiert das Seelenleben der Porträtierten, ohne es zu erklären. Fachleute kommen nicht zu Wort, Ursachen, Behandlungsformen und Heilungschancen der Depression sind kein Thema. Damit wird gleichsam die Integrität der unfreiwilligen Grenzgänger bewahrt. Helene P. fühlt sich schuldig, weil die Söhne ihr die ganze Zügelarbeit abnehmen. «Du hast ihnen doch sicher auch viel gegeben», entgegnet der Filmer spontan. Sie: «Da bin ich mir nicht so sicher.» Der Tiefflug der Psyche wird nicht in ein Krankheitsbild überführt und mit psychologischer oder medizinischer Begrifflichkeit «Sinn» gegeben. Ein viertes Porträt ist dann fast nur noch auf der Tonspur präsent; Bronislaw Kopczynski, Hobbymusiker und ebenfalls an schweren Depressionen leidend, steuert die Filmmusik zu Seelenschatten bei.

Gerade Gränichers respektvolle Herangehensweise, eine Art Naivität der Methode, wirft jedoch auch die Frage auf, ob so ein grösseres Verständnis für das heikle Thema erreicht wird. Vielleicht am ehesten durch das Ende, das in allen vier Fällen latent in eine Erfolgsgeschichte mündet, und sei es die der gewonnenen Erkenntnis. Helene P. will sich nicht mehr filmen lassen, als sie, in Grossmutterpflichten aufgehend, endlich Licht am Horizont sieht. Charles E. hat eine Stelle als Chemiker gefunden; es gelinge ihm besser, die Krankheit zu akzeptieren, vor der er keine Angst mehr habe, aber Respekt. Die junge Frau, zwar weiterhin in einem Auf und Ab, ist nicht alleine und will auf jeden Fall die verkürzte kaufmännische Lehre abschliessen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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