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Gambling, Gods and LSD

Durch vier Länder und drei Kontinente streift die Expedition mit Kamera und Mikrofon. Jede Schwingung, in die jemand den Erdkreis versetzen will, fängt damit an, dass man schon mal selber loszittern muss.

Text: Pierre Lachat / 01. Dez. 2002

Könnte sein, kommentiert Peter Mettler wie nebenhin, dass es mit dem Unterschied zu tun habe zwischen looking for something und just looking. Beide Ausdrücke sind sehr bewusst aus alltäglichen Dialogen entlehnt, wenn es etwa tönt, auf einem Markt oder in einem Laden: «Suchen Sie etwas Bestimmtes? – Danke, ich schaue nur.» In der einen Wendung steckt so sehr wie in der andern the look, aber der Begriff des Blicks spaltet sich dann auf in auseinander strebende Vorstellungen: in die des aktiven Recherchierens und die des untätigen Wahrnehmens. Und sowie das Auge passiv geworden ist, tritt auch dieses hinzu: ein Mangel an forschender Tiefenschärfe, ein Hinschauen auf Zusehen hin, die Flüchtigkeit des unbeteiligten Zaungastes.

Durch vier Länder und drei Kontinente streift die Expedition mit Kamera und Mikrofon. Jede Schwingung, in die jemand den Erdkreis versetzen will, fängt damit an, dass man schon ’mal selber loszittern muss. Aber die Etappen werden ohne gestecktes Ziel angesteuert und absolviert und wohl auch ohne ein unerklärtes. Die Reise geht weniger den Motiven nach, noch möchte sie etwa gar einen Mondo Mettler vermessen, sondern sie will nur gerade eins: die vorgefundenen Sujets durch Antippen veranlassen, stracks ins Gerät hinein zu hüpfen, um ihre Spur in die Speicher zu zeichnen und in der Verlängerung (vielleicht) auf die Leinwand.

Was die «Aufnahmen» – in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes – die Wochen und Wochen des Drehens zuwege bringen, ist aus eigenem Vermögen schlecht geeignet, die Welt zu erschüttern. Allenfalls «Materialien» kommen so zusammen, worin sie auch bestehen. Die Erzeugung des eigentlichen Sinns wird auf die Periode des Montierens vertagt. Wie bei einem Schreibenden mit seinen paar unfertigen Einfällen im Hirn findet die Recherche am Bildschirm statt. Was er zu sagen versucht, versteht er oft selber nur halb, solange es nicht ausformuliert ist und möglichst schon gedruckt. Das Was und das Wie sind eben doch nur schwer zu trennen.

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Une image juste ou juste une image

Und wie fügt sich nun, von all den angehäuften Elementen, ein jedes zum andern; ist oder wird es Notiz, Einfall, Reportage, Erzählung, Schauspiel, Szene, Einschub, Fussnote, Interview, Impression, Aperçu, Hypothese oder Essay. Es kann in die Vergangenheit führen oder in die Gegenwart. Es gehört zu den Vermutungen oder zu den Überzeugungen, zu den Gedanken oder zu den Umständen, unter die Dokumente oder in die Fiktion. Une image juste ou juste une image. Womöglich will der ganze kunterbunte Krempel alles auf einmal bedeuten, mehr noch: er schmeisst einen immer wieder auf das Gleiche zurück. Darin steckt (wer weiss) ebenso viel Gefahr wie etwaiger Gewinn.

An einer späteren Stelle muss der Kommentar seinen Mut aus der Hoffnung schöpfen, der Film werde sich schon von allein verfertigen. Will sagen: jedes einzelne Stück falle schliesslich an seinen Platz, und alles, was sich frage, münde in eine Antwort. (Oder so müsste es sein.) Zuletzt kommt das Gebilde unter den Titel Gambling, Gods and LSD zu stehen, und auf dieses wiedergeborene Sex, Lies and Videotape hat sich jeder seinen separaten Reim zu bilden, der Autor als erster Zuschauer ebenso wie das ganze Publikum.

Beliebig heraus gegriffen, kommen nacheinander zum Zug: die «Toronto Airport Christian Fellowship Church», das «Harrah’s Casino Las Vegas (Security Department)», die Forscher Christian Richter und Albert Hofmann sowie der «Bombay Laughing Club». Und mit diesen Motiven und Figuren sind Glücksspiel, Religion und Droge wohl schon reichlich thematisiert, samt ein paar sonstigen Inhalten, die der Filmtitel ungenannt lässt. Besichtigt werden ausserdem der «Air Traffic Control Tower» von Toronto, die Sprengung des Aladdin Hotels von Las Vegas, die bekennenden Junkies Christine Koch und Roger Greminger sowie die Feuertänzer Ajith Kumar und Jairo. Alles in allem verzeichnet die Liste achtunddreissig Positionen in vier Gruppen.

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Was wahr wird

Je länger und weiter ich reise, wirft Peter Mettler etwas weiter hinten ein, um so mehr bestechen mich die Ähnlichkeiten: die Einfalt. (Sehr im Gegensatz, heisst das wohl, zu den «Kontrasten», mit denen der Tourismus-Reporter seine Umsätze erzielt.) Nicht das Widersprüchliche zeitigt den Ertrag dieses Films, sondern das Wiederkehrende: was immer geeignet ist, einer Spiegelung zu begegnen, ein Echo auszulösen, Entsprechungen und Antworten zu finden und von einem just looking zum folgenden zu führen.

Da kehrt zum Beispiel ein rhythmischer Wechsel wieder zwischen Träumen und Wachen, Rausch und Ausnüchterung, Ekstase und Niedergeschlagenheit, Wahn und Klarsicht. Doch vollzieht sich dieses Auf und Ab an keinem einzelnen Ort, sondern auf weit auseinander liegenden Schauplätzen, unter verschiedenen Völkern. Und fast sieht es aus, als trage sich alles auch in unterschiedlichen Epochen zu und dennoch wie eingebunden in eine einzige übergreifende Gleichzeitigkeit, die wiederum zu einer Verschmelzung der Städte und Länder führt. Bald im Ernst, bald im Scherz reden die Theoretiker dann von den Auswirkungen, die der Flügelschlag eines Schmetterlings in Osaka auf ein Gewitter über Bordeaux oder Feuerland (vielleicht) hat.

Wahr werden demnach keine einzelnen Feststellungen, etwa die Video-Überwachung eines Hotels in Arizona betreffend oder die Kontrolle des kanadischen Flugverkehrs, sondern deren Verbindungen und deren Summe: das, was jede Aussage an jede andere heftet: was immer zwischen den Szenen und den Themen liegt. Es handelt sich, anders gesagt, um den Stoff, aus dem die Erfahrungen bestehen, sofern sie samt und sonders von ein und demselben Beobachter gemacht worden sind.

Just Looking

Die Person, das Individuum, der Charakter ist nichts anderes als jenes einmalige Gewebe von lauter erinnertem Dabeigewesensein, das sich bildet aus dem lebenslangen just looking oder distanzierten Zuschauen. Es wird am Ende überflüssig (sicher für diese ganz bestimmte Art des Filmemachens), jenes andere überhaupt geübt zu haben: das ominöse looking for something oder Suchen nach etwas Bestimmtem.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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