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Les petites couleurs

Wenn man in Patricia Plattners Schaffen von einer Konstante sprechen will, so wäre hier als einigende Klammer die Neugier auf fremde Kulturen und die Faszination des Reisens zu nennen. Les petites couleurs geht eigene Wege. Der Film liebäugelt erst etwas mit der Tragödie, streift immer wieder einmal das Drama und wechselt dann ins Komödienfach.

Text: Birgit Schmid / 01. Dez. 2002

Der neue Film der Westschweizer Regisseurin Patricia Plattner ist nicht leicht einzuordnen, weder in ein Genre noch in ihr bisheriges Werk, das sowohl aus Dokumentarfilmen (Hotel Abyssinie, Made in India) wie Spielfilmen (Le livre de cristal) besteht. Wenn man in diesem Schaffen von einer Konstante sprechen will, so wäre hier als einigende Klammer die Neugier auf fremde Kulturen und die Faszination des Reisens zu nennen. Les petites couleurs geht eigene Wege. Der Film liebäugelt erst etwas mit der Tragödie, streift immer wieder einmal das Drama und wechselt dann ins Komödienfach. Erzählt wird die Geschichte der Coiffeuse Christelle, die eines Tages von ihrem rabiaten Gatten genug hat und nach einer erneuten Prügelei die Kampfzone Ehe verlässt. Aktueller Streitgegenstand ist die Maschine «Belles Boucles», eine Erfindung, die mit neuartiger Kapillartechnologie dauerwährende Lockenpracht verspricht. Schon dieser bizarre Zauberapparat, ein (Alp-)Traum in Rosaviolett aus mancherlei Behälterchen und Schälchen, Knöpfen und Kabeln, steht eigenartig quer in dieser zu Beginn doch sehr ernsthaft exponierten Eskalation häuslicher Gewalt. Hier nimmt Les petites couleurs Züge einer Soap Opera an, zumal der Gatte mit einem einzigen Strich gezeichnet – sprich karikiert – ist, als einer, der befiehlt, wann das Essen auf dem Tisch zu stehen hat, und der seiner Frau, da sie zu dumm dafür sei, die Lockenmaschine vergönnt.

In der Tat wirkt diese Christelle reichlich naiv, gibt das «verschupfte Huscheli», eine hübsche graue Maus, die Unrecht mit Tränen, aber stumm erduldet. In der duftenden Wolke und dem Spiegelglanz ihres Coiffeursalons scheint sie der kruden Wirklichkeit etwas entschweben zu können. Noch mehr Traumflucht bietet ihr die Seifenoper «Die Liebesranch», in der bis zum garantierten Happyend aus tiefstem Herzen geschmachtet, intrigiert, gelitten und geliebt wird. Eigenartig von gestern also wirkt diese Christelle, eine Figur wie aus den Sechzigerjahren und vom Zuschnitt der Heldinnen Marlene Haushofers, der österreichischen Autorin: emanzipationsunwillig, nur in ihrer kleinen, selbst geschaffenen Utopie still vor sich hin rebellierend. Die Frau Mitte dreissig geht im Verlaufe der Geschichte dann auch nicht den Weg radikaler Selbstverwirklichung; eine geschlechtspolitische Aussage steht hier nicht im Vordergrund.

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Mit blauem Auge findet Christelle Unterschlupf im Galaxy Motel, einer Absteige an einer Schnellstrasse in der Provinz, wo Lastwagenfahrer auf der Durchreise einkehren, Handelsvertreter temporär ein Domizil finden oder einsam Herumstreunende dauerhaft Asyl erhalten. Die Verlorene strandet nun förmlich am Busen der Besitzerin des Hauses, der mittelalterlichen Mona, eine Art Übermutter mit seelsorgerischem Flair – und, zur Freude von Christelle, ebenfalls nicht Kitschresistent und ein Fan der Sendung «Die Liebesranch». Die pragmatische und unzimperliche Mona hilft der geschundenen Christelle schnell wieder auf die Beine. Nicht dass diese also keine Entwicklung durchmachen würde: in der lebhaften Welt des Motels, das mit seinem Restaurant und Dancing selten zur Ruhe kommt, entfaltet sie sich wie eine Blume; trägt alsbald Pastellfarben und verhilft auch den schäbigen Räumen zu mehr Farbe; macht sich nützlich, putzt, wäscht und beginnt mit der Zeit, die Leute zu frisieren.

Bei aller Überzeichnung, ob unfreiwillig oder bewusst, wird man irgendwie warm für diese Figur, zumal Anouk Grinberg die sanfte Metamorphose mit der passenden Zurückhaltung vornimmt. Recht abgefahren wirkt Christelle gerade in ihrer unzeitgemässen Bravheit und Biederkeit. In ihrer lieblichen Unschuld ähnelt sie ein bisschen der Amélie Poulain; Anklänge an das «fabuleux destin» finden sich auch in der Bonbon-Poesie mancher Bilder, die Matthias Kälin fotografiert hat. Les petites couleurs, sollte er dieses Ziel haben, ist definitiv kein «Frauenfilm» – trotz der Frauenpower im Motel Galaxy, die vor allem von Mona ausgeht, verkörpert vom französischen Schauspielstar Bernadette Lafont, die man aus Filmen von Chabrol oder Rivette kennt.

Recht abgefahren ist überhaupt die ganze Komödie. Es passiert wenig, im Mittelpunkt stehen die Figuren und das Action-potential, das in ihnen liegt. Für Christelle werden Männerbekanntschaften wieder wichtig: Im Kosmos des Hotels gibt es die schräge Figur eines affektierten Polen, der Damendessous verkauft und auf Verführungskurs geht – Gilles Tschudi aus «Lüthi und Blanc» hinterlässt eine beachtliche Schleimspur. Mit ihm rivalisiert ein junger Fernfahrer und Mann für alle Fälle. Diese Beziehungen provozieren nun kleine Veränderungen in der Heldin und befördern sie auf ihrem Weg weiter. Patricia Plattners Les petites couleurs erinnert darin und in manch anderem an Filme ihres welschen Kollegen Alain Tanner: im beobachtenden Fokus auf die Figuren, in der Vitalität des Gemeinschaftslebens, den pfiffigen Dialogen, dem Charme der Provinz als Handlungsort. Eine Ahnung von idealer Welt ist in der unperfekten immer spürbar. Und sei es durch die Hinzugabe von ein bisschen Farbe.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2002 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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