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Fremds land 2

Fremds Land

Text: Irene Genhart / 01. Feb. 2003

«S'meint äinä bim ene Charteschpiil / D's Glück das lach ihns aa / hed scho gmeint är sig am Ziil / hed glii scho niimä gha / und äinä buwd äs grosses Huis / mäint är buws für d'Ewigkeit / doch hed mä ihns dio g1ii scho druif / in'ere Chischtä uisä träid / Ringel-Ringel-Räihä / der Schwarz dä chund cho mäihä, / und pletzlich schtahd er da ... » (Titelsong Fremds Land)

Once upon a time . .. in der tiefsten Innerschweiz. Napoleon zieht gegen Russland und fordert von der annektierten Schweiz neue Soldaten. Tatsächlich aber stehen die Freiwilligen unter den Eidgenossen längst schon in seinem Sold. «Mehr» fordert der Kriegsherr und droht mit Okkupation, wenn das Kanonenfutter nicht geliefert wird. Zu Samen setzen sich die Ratsherren zusammen und rechnen. Vierhundert Mann soll das winzige Obwalden stellen. Guter Rat ist teuer und die Lösung, zumindest wie sie Fremds Land präsentiert, eine urkundlich belegte, unschöne Schlitzohrigkeit: «Zwangsrekrutierung » lautet die Zauberformel. Oder zu gut Deutsch: Wenn die Gefängnisse leer sind, füllt man sie wieder, und zur Not hilft man nach. Da sollen ein paar junge Burschen fürs Vaterland doch ein «Öpferli» bringen.

Einzelschicksal, exemplarisch

Nicht «Näppel», nicht die feinen Herren von Sarnen, sondern ein junger Bursche aus Lungern ist der Protagonist des zweiten Spielfilms von Luke Gasser. Der Obwaldner Gasser hat vor zwei Jahren in seinem eindrücklichen No-Budget-Erstling Baschis Vergeltung erzählt, wie mit der Eröffnung des Gotthards die Weltgeschichte in seiner Heimat Einzug hielt und es im Obwaldischen zum Brudermorden kam. In Fremds Land erzählt er nun, welch fatalen Einfluss ebendiese Weltgeschichte auf die Biographie eines Einzelnen haben kann. David Gasser, vom Regisseur selber gespielt, ist jung und kräftig. «Sonne im Haar» nennen ihn die Cheyennes am Schluss von Fremds Land, das ist ein Zeichen für Freiheit und Stärke. Doch im Jahr 1812, in dem Gassers Film einsetzt, ist der Sohn eines Selbstmörders kein angesehener Mann im Dorf. Knechten tut er, hat ein Liebstes und, wenn es sein muss, eine laute «Gosche», zwei kräftige Fäuste und genug Adrenalin, um sich zu beweisen. Darauf setzen die Ratsherren, als sie ein paar Männer aus der Nachbarsgemeinde losschicken, um die Lungener Nachtbuben in eine Schlägerei zu verwickeln. Nicht einmal seine Kathri darf David nochmals sehen, schon steckt er in der Uniform der Franzosen und schlottert einige Monate später in der eisigen Kälte des russischen Winters.

Femds land 1

Ein Bündel Briefe

«24. des Wintermonats anno 1812. Liebe Kathri, Noch einmal schreibe ich Dir, obwohl ich nicht glaube, dass du dieses Bündel mit Briefen, welche ich Dir auf diesem unglückseligen Feldzug geschrieben habe, bekommen wirst. Wir liegen hier an einem Fluss, der Beresina heisst. ( ... ) Wir sind müde, hungrig und halb erfroren, und so sehen wir alle wenig Hoffnung, im Kampf gegen den Feind zu bestehen ... »

Gassers Briefe schaffen den Weg nach Lungern doch. Auch David kommt wieder heim. Doch es ist keine glückliche Rückkehr. Not und Armut plagen die Schweiz nach der Verbannung Napoleons und der Wiederherstellung der alten Ordnung. Kathri hat – in der Meinung, David sei gefallen, aber auch um den Hof ihrer Familie zu retten – einen anderen geheiratet. David knechtet wieder. Aber er ist zu Hause ein Fremder geworden und träumt von einem Ort, an dem auch einer wie er eine Zukunft hat. 1815 wird in Samen eine Publikation ausgehängt: «Jeder, der willens ist, seine angestammte Heimat zu verlassen, um in den Vereinigten Staaten von Amerika eine neue Existenz zu gründen, wird mit einer gebührlichen Summe für die Kosten der Reise unterstützt ... » Plötzlich ist er da, der Traum von Amerika. Einen heftig-deftigen, dummen Schicksalsschlag braucht es noch, und man findet David Gasser aus Lungern jenseits des Ozeans.

Unerschrockener Träumer

Im Lauf der Jahre wächst das Bündel Briefe. Es verschwindet in einem Kasten, landet auf einem Estrich, kommt Jahre später wieder ans Licht, wird zum Leitfaden von Fremds Land. Eine beigelegte Zeichnung – sie zeigt David Gasser mit Indianern und ist «Karl Bodmer, 1833» signiert – wird zum Aufhänger: Luke Gasser, geboren 1966, ist ein passionierter Geschichte- und Geschichten-Erzähler. Ihn interessiert nicht nur Verbrieftes, sondern auch mündlich übertragenes, Histoire gespiegelt in Sagen und Legenden. Er hat das Erzählen gelernt. Nicht als Filmemacher, nicht als (Drehbuch-)Autor – sondern als Songtexter und Rockmusiker. Von Teufel und schönen Mädchen, von Verdammten, der Lust am Wein und dem Sensemann singt Luke Gasser in seinen oft balladeartigen und in den letzten Jahren auch meist in Mundart gehaltenen Rocksongs. So wie ein guter Gasser-Song – authentisch, rhythmisch, zornig, zärtlich, wehmütig, wild – ist auch Fremds Land. Die Darsteller sind zum grössten Teil Laien. Sie spielen «sich selber», sprechen die Sprache, in der ilmen der Schnabel gewachsen ist: die Lungerer Lungeretdeutsch, die Franzosen Französisch, die Trapper in Amerika ein urtümliches Amerikanisch. Authentizität ist das eine Schlagwort, historischer Hintergrund ist das zweite: Fremds Land ist eine fiktive Historienmär. Fiktiv ist die Biographie Davids. Beurkundet der Hintergrund: Napoleons Russlandfeldzug 1812, die Auswanderungswelle um 1816, die Ära der Mountain Men in den 183oer Jahren in den Rocky Mountains. Wirklich gelebt haben auch der Schweizer Kunstmaler Karl Bodmer und der deutsche Naturhistoriker und Ethno loge Prinz Maximilian zu Wied, die man in Fremds Land trifft.

Ist historiengetreue Fabulierfreude ein markantes Moment von Fremds Land, so ist Unerschrockenheit ein weiteres: Souverän hat sich Luke Gasser den Weg in die Filmemacherei frei geschlagen. Er hat sich nicht einschüchtern lassen von gängigen Prozedere und herrschenden Produktionszuständen. Fremds Land hat Kraft, Goodwill, Kreativität gekostet; aber auch bloss gut 200'000 Franken. Das sieht man dem Film an. Nicht in der Qualität, sondern in seiner Handschrift: Da erzählt ein Schweizer trutzig und kräftig, spannend und packend – und wenn es sein muss auch blutig – eine Geschichte, die sitzt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2003 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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