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Ferien im duett 01

Ferien im Duett

Reisen bildet. Unversehens tun sich nicht nur neue Gegenden, sondern auch Seelenlandschaften auf: es eröffnen sich neue Horizonte, man erklimmt Höhepunkte, stürzt bisweilen aber auch in Abgründe. Dieter Gränicher hat dies in seinem neuen Film Ferien im Duett dokumentiert.

Text: Rolf Niederer / 01. Dez. 2004

Reisen bildet, heisst ein Allgemeinplatz, dem Volksweisheit zugeschrieben wird. In differenzierter Hinsicht, manchmal durchaus zu Recht. In der Tat: Wo lernt man nicht nur neue Landschaften besser kennen, sondern auch sich selber in den Beziehungen zu den Anderen und deren Eigenheiten. Unversehens tun sich nicht nur neue Gegenden, sondern auch Seelenlandschaften auf: es eröffnen sich neue Horizonte, man erklimmt Höhepunkte, stürzt bisweilen aber auch in Abgründe. Dieter Gränicher hat dies in seinem neuen Film Ferien im Duett dokumentiert.

«Spöttisch sagte ich immer», so der Filmemacher, «nach dem dänischen Dogma 95, das unter anderem den Schauspieler ausgeprägt ins Zentrum stellte, gebe ich meinen «Schauspielern» die Kamera gleich selber in die Hand.» Und «weil der Dokumentarfilm schon immer ein echtes Fenster zur Welt darstellte», wie Michael Sennhauser im Filmbulletin Nr. 5.2004 durchaus zu Recht feststellte, «schweift der Blick natürlich auch diesmal grosszügig in die Ferne.» Kein Experimentalfilm, aber ein Experiment mit offenem Ausgang. Vier junge Liebespaare drehen mit der Kamera, die ihnen Dieter Gränicher mitgab, je einen Film: über sich, über ihre Beziehung, über ihre Reise in ein fremdes Land. Sie beobachten sich selber. Daniela und Markus verbringen ihre Flitterwochen in Australien. Sascha, frisch verliebt, sucht mit Stefan in Marokko nach den Wurzeln ihres Herkommens. Anna ist zum erstenmal ohne Eltern mit Erich auf Safari in Namibia, und Salome sucht in Kuba ihre Beziehung mit Walter zu vertiefen.

Die Reise wird zur Prüfung. Fragen stellen sich: Wie tief ist das jeweilige Interesse an der ungewohnten Umgebung? Suchen die verliebten Paare den echten Kontakt mit dem fremden Land oder haben sie nur Augen für sich? Kommen sie sich näher ohne den Alltagsstress, dem sie zu Hause ausgesetzt sind? Führen die hohen Erwartungen, die sie an ihre Liebe stellen, durch den intensiven täglichen Kontakt zu Konflikten? Bleiben sie nach der Reise beisammen oder trennen sie sich gar? Die Kamera hat die Antworten auf diese Fragen in Bild und Ton festgehalten: Im Sucher der Kamera entdecken sich die Paare selber und den Partner neu. Und manchmal ist man schnell auch einmal alleine auf der Insel des Fremdseins. Dann wenn plötzlich einmal ein anderes Gesicht als das vertraute zum Vorschein kommt.

Ferien im duett 08

Dieter Gränicher war der erste Zuschauer, der die Bilder der Innen- und Aussenperspektive sah und in den privaten Erinnerungsalben blätterte. «Ich versuchte über das Material zu entdecken, was die Paare auf der Reise erlebt haben. Auf Grund dieser Bilder arbeitete ich Schwerpunkte und Themen heraus und führte anschliessend die Interviews», erläutert der Autor, der gegen siebzigstündiges Filmmaterial zu sichten und montieren hatte: Vom vergnüglichen, manchmal parodierten Ferienfilm, mit dessen Betrachtung sonst die Verwandt- und Bekanntschaften die Einladungen zum Nachtessen abzuarbeiten haben, bis zur erstaunlich professionell gedrehten Reportage und schliesslich zum erfolgreichen Bemühen um das Verständnis fremder Kulturen und eigener Befindlichkeiten. Das alles ist ebenso aufschlussreich wie spannend, und bisweilen fühlt man beim genauer Hinschauen selber das Gewissen der Erinnerung im Herzen schlagen.

Dieter Gränicher hat diese direkten und spontanen Aufnahmen zu einem Dokument gefügt, das spannend und humorvoll erzählt, wie junge Paare in ganz unterschiedlichen Phasen ihrer Beziehung ihre Ferien verbringen, dem fremden Land und seinen Bewohnern begegnen und dabei Wesentliches und Entscheidendes über sich und ihre Liebe erfahren. Die Bilder geben einerseits Zeugnis von der Vertiefung einiger Beziehungen, vom Bewusstseinsprozess, der – wie könnte es anders sein – vor allem die jugendlichen Männer reifen lässt, sie erinnern aber auch an die Möglichkeiten des Scheiterns und das Scheitern selber.

Entstanden ist ein Film, wie ihn Dieter Gränicher bisher nicht realisiert hat. Seine Filmographie als Autor und Produzent von Dokumentarfilmen ist geprägt von Arbeiten zu Themen von Abschied und Erinnerung wie Spuren der Trauer (1986) oder Gezeiten (1999), ein filmisches Essay auf vergangene Stimmungen und Zeiten. Eher soziale und gesellschaftskritische Aspekte waren in Hinterland (1990), der Entwicklung einer Vater-Sohn-Beziehung mit den generationsbedingten Gegensätzen, in Transit Uri (1993), einer Reflexion über grundsätzliche Fragen der Mobilität, oder in Der Duft des Geldes (1998), den Porträts von vier Wohlhabenden auf der Suche nach ihrem Glück, zu finden.

Dieter Gränicher, 1955 in Erlenbach (ZH) geboren, ist Autorenfilmer. Nach der Matura besuchte er einen Fotokurs am Palomar College in Kalifornien (USA), worauf er Ethnologie und Publizistik in Zürich studierte. 1976 gründete er die S8-Filmgruppe Zürich, mit der er zahlreiche Dokumentarfilme realisierte, vorwiegend zu politischen Themen. Schauspielkurse nach der Strasberg-Methode und eine Hospitanz am Theater am Neumarkt in Zürich ergänzten die autodidaktische Ausbildung in dieser Gruppe. Zwischen 1987 und 89 besuchte er verschiedene Regieseminare mit den polnischen Regisseuren Krzysztof Kieslowski und Edward Zebrowski in Bern. Er lebt und arbeitet in Zürich.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 9/2004 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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