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Ässhäk – Geschichten aus der Sahara

Wie schon in ihrem Dokumentarfilm Die Salzmänner von Tibet ist Ulrike Kochs Filmarbeit ein respektvolles Mit-Leben, ein Sich-Einlassen auf den Rhythmus, die Werte einer fremden Kultur. Hier wie dort, in der Wüste wie auf dem Dach der Welt, beobachtet sie – durch die Kamera von Pio Corradi – die ruhige Selbstverständlichkeit, die Gelassenheit eines Lebens in traditionellen Mustern, angepasst einer extremen Natur.

Text: Irène Bourquin / 01. Mär. 2004

«Gesichter der Wüste» könnte, doppeldeutig, als Titel über diesem Beitrag stehen. Ulrike Kochs Film Ässhäk – Geschichten aus der Sahara führt in ruhigem Rhythmus tief hinein in die südliche Sahara – Aïr-Gebirge, Ténéré, beides im Staat Niger – und macht uns bekannt mit den Tuareg-Stämmen dieser Regionen, deren nomadische Lebensweise, vom Praktischen hin zu Sitte und Moral, durch ihre karge Umwelt geprägt ist. Wuchtige Felsformationen und spärliches Grün im Aïr-Gebirge; die gelbe Endlosigkeit der gerillten Dünen im Ténéré; weite Himmel, ein klares Firmament, das es den Karawanenführern erlaubt, nach den Sternen zu «navigieren». Die Macht der Elemente: Sandsturm, Donner und Regen, der ein trockenes Wadi im Nu mit braunem Gestrudel füllt, ein flaches Tal teilweise unter Wasser setzt.

Wie schon in ihrem Dokumentarfilm Die Salzmänner von Tibet (1996/97) ist Ulrike Kochs Filmarbeit ein respektvolles Mit-Leben, ein Sich-Einlassen auf den Rhythmus, die Werte einer fremden Kultur. Hier wie dort, in der Wüste wie auf dem Dach der Welt, beobachtet sie – durch die Kamera von Pio Corradi – die ruhige Selbstverständlichkeit, die Gelassenheit eines Lebens in traditionellen Mustern, angepasst einer extremen Natur. Koch zeigte den Tuareg den Film Die Salzmänner von Tibet, um ihr Sahara-Projekt zu erläutern. Die Wüstennomaden verstanden: «Ja, das sind unsere Brüder und Schwestern in Tibet.» Der Film über die Tuareg ist das Resultat einer langsamen Annäherung im Laufe dreier Reisen. Die gesamte Arbeit am Film dauerte vier Jahre.

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Ässhäk zeigt das Leben der Tuareg sozusagen von innen, aus ihrer Sicht, obwohl die Leute direkt in die Kamera blicken, wenn sie etwas erzählen oder erklären, wie den für sie zentralen Begriff Ässhäk: Ässhäk heisst, den guten Prinzipien, den Regeln des Wohlverhaltens und Gott zu folgen. [...] Es bedeutet, alle Lebewesen zu achten. Es ist das Ässhäk, das die einsaitige Geige, den Imzad, geschaffen hat. Daher kommt auch das den Mund verhüllende Gesichtstuch der Männer. Doch die Frauen, obwohl sie keinen Turban tragen, tragen das Ässhäk im Herzen.» Dies sind die Worte des Geschichtenerzählers El Hadj Ibrahim Tshibrit, der die mündliche Überlieferung seines Stammes bewahrt. Seine Nichte Schilen Rabidin, die Imzad-Spielerin, sagt: «Das Imzad-Spiel verstärkt Ässhäk und damit den Respekt vor anderen Menschen. Es verleiht Mut im Herzen, so dass du gar nichts Böses tun kannst.» Ässhäk: Das Wirken dieses Werte- und Verhaltenskodex wird im Film immer wieder deutlich. Auffallend ist der respektvolle Umgang der Menschen miteinander, auch wenn Reisende zusammentreffen: stets erfolgt, nach Fühlungnahme durch wiederholtes Übereinanderstreichen der Handflächen, eine rituelle Erkundigung, ob alles gut geht, ob niemand in der Familie krank ist. Schön ist die Sitte, sich an einem bestimmten Feiertag allgemein zu verzeihen – selbst wenn nichts vorgefallen ist. Achtsamkeit auch in Alltagsdingen, im Besorgen des Kleinviehs oder beim höchst komplizierten Wickeln des traditionellen Turbans. Ein spezielles Merkmal der Tuareg ist der Gesichtsschleier der Männer. Er soll helfen, Distanz zu anderen Menschen zu schaffen: die vom Ässhäk geforderte vornehme Zurückhaltung. Das Bedecken des Mundes soll zudem böse Geister fernhalten. Der Tuareg-Mann (Targi) bedeckt seinen Mund, wenn er mit Fremden spricht, und er isst nicht in Anwesenheit von Frauen. Vor der Kamera essen Männer hinter dem Schleier.

Auffallend sind die starken, selbstbewussten Frauen – ihre hohe Stellung ist atypisch für den Islam, doch ziehen sie ihre Kraft und Zuversicht aus dem Gefühl, im Einklang mit Gottes Gesetz zu leben. Die Frauen, Besitzerinnen der Zelte, sind zuständig für deren Aufbau und Abbruch (fast jeden Monat), für Esel und Ziegen, für die Kinder, für das oft beschwerliche Wasserholen. Beim Singen und Trommeln der Frauen und Mädchen wird die gemeinschaftsbildende Kraft der Musik deutlich. Es scheint, als kämen die Frauen in dieser matriarchalisch geprägten Struktur auch ohne Männer ganz gut zurecht: «Der Mann ist wie der Schatten des Baumes am Morgen ...» Eine alte Frau, die neben den eigenen Enkeln mehrere Waisenkinder aufzieht, sagt: «Die Männer betrachten einzig ihre Handelskarawanen als Arbeit; dabei ziehen sie nur einige Monate im Jahr durch die Wüste, unsere Arbeit aber dauert das ganze Jahr.» Die Karawanen durch den Ténéré sind gefährlich, aber auch der Frieden des Lagerlebens trügt: Eines der im Film gezeigten jungen Mädchen ist inzwischen an einem Skorpionbiss gestorben.

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Eine ehrwürdige Figur ist der Marabut Ejambo, Hüter einer Moschee im Sand sowie vorislamischer Bräuche. Für eine Wöchnerin, die eine schwere Geburt hatte, bereitet er vor laufender Kamera einen magischen Trank aus Koranversen. Hier verwischen sich die Rituale: Magie ist eigentlich im Islam nicht erlaubt. Auch die Heiltrommeln, mit deren Hilfe Frauen eine vom Wüstengeist Besessene heilen, sind vorislamisch. In die Tiefe der Geschichte führen Felszeichnungen, die den Tuareg viel bedeuten. Sie zeigen Tiere, die es hier nicht mehr gibt, so Strausse, evoziert in einer verwunschen wirkenden Traumszene. Die wilden Tiere gelten auch als Geistwesen oder deren Verkörperung: Respektvoll weist der Marabut auf einen Hasen, der in der Moschee sitzt. Auch altlybische Schriftzeichen sind auf Felsen zu finden: das Tifinagh, von den Tuareg heute noch verwendet zum Schreiben in den Sand oder, beim Flirt, in die Handfläche des Partners.

Die Tuareg haben eine reiche orale Kultur. Der Geschichtenerzähler berichtet: wie die Wahrheit eingefangen und zur Frau gemacht wurde; wie alle Versuche scheiterten, die «versunkene Oase» Gewas wiederzufinden, die ein Kamelreiter zufällig entdeckt hatte; wie die Kamele, Wesen des Himmels, lächelnd den Propheten Mohammed begrüssten, weshalb nun ihre Oberlippe gespalten ist. Wie seine Erzählungen heben manche Filmsequenzen ab ins Mythische und Legendenhafte. Auch das entlaufene Kamel, das als roter Faden die Schauplätze verbindet, wird so fast surreal. Das Begleitkamel des Suchenden hingegen wird zu einem Protagonisten und erscheint sogar mit Namen im Abspann: es heisst Aurach.

Aufhorchen lässt ein kurzer Dialog auf dem Markt von Arlit, wo ein nach dem gesuchten Kamel Gefragter antwortet: «Wir sind Autoleute.» Tatsächlich verdrängen Autotransporte mehr und mehr die Karawanen. Auch die Wüstennomaden tragen heute Gummisandalen, kennen Nescafé und trommeln gelegentlich auf leeren Kanistern. Der Schmied, der den Namen des Neugeborenen ausruft, trägt zum Turban eine Sonnenbrille. Dies alles lässt sich im Kino beobachten. Ethnologisch Interessierte hätten freilich noch Fragen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Taufe, vor der das Kind geschoren und «geschminkt» wird. Aber belehrende Wissenschaft ist nicht das Ziel dieses schönen Films. Zeigen will Ulrike Koch den Einklang von Mensch und Natur in der für diese Umgebung geschaffenen Kultur. Der ruhige Rhythmus des Films entspricht dem aufrechteleganten Gang der Tuareg und ihrer Tiere im Sand.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2004 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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