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Höllentour

Mein Velo und ich, ich und mein Velo: das ist das Credo des Rennrad-Fahrers. Rennradler sind ein besonderer Menschenschlag, bohnenstangendürr und mit nur einem einzigen Lebensziel vor Augen: Tempohalten!

Text: Herbert Spaich / 01. Sep. 2004

Mein Velo und ich, ich und mein Velo: das ist das Credo des Rennrad-Fahrers. Rennradler sind ein besonderer Menschenschlag, bohnenstangendürr und mit nur einem einzigen Lebensziel vor Augen: Tempohalten! Vermutlich haben alle eine Oma daheim, die sie mit der Trillerpfeife auf Trab, das heisst in den Pedalen hält. Das war kürzlich im Kino bei Les triplettes de Belleville zu sehen. höllentour ist gewissermassen das real-dokumentarische Gegenstück zu Sylvain Chomets Animationsfilm-Satire über die Psychopathologie von Radrennfahrern. In beiden Filmen sorgt die Tour de France – seit über hundert Jahren der Höhepunkt eines professionellen Radlerlebens – für den dramaturgischen Rahmen. Wie alle Grossereignisse dieser Art handelt es sich dabei um einen geschlossenen Kosmos, von dem nur die Oberfläche in den abgegriffenen Bildern der Fernsehübertragungen nach aussen transportiert wird. Alles, was darüber hinausgeht, ist in der Regel dem öffentlichen Einblick verwehrt. Deshalb sind filmische Dokumentationen über das menschliche und soziale Innenleben der grössten Radsportveranstaltung der Welt rar: Das hat auch damit zu tun, dass die Radler selbst – aus den beschriebenen Gründen – eher kamerascheu und verbal zurückhaltend sind. Allein dieser Umstand macht Pepe Danquarts höllentour zu einem Ereignis. Mit badischer Zähigkeit hat der Freiburger Regisseur das schwierige Projekt gestemmt, das mit dem Anspruch gedreht wurde, mehr als eine TV-Reportage zu sein. Ein Jahr lang ist Pepe Danquart dem T-Mobile Team nicht von der Seite gewichen, um gründlich zu recherchieren.

Anschliessend durfte er mit Co-Regisseur Werner Swiss Schweizer und drei Kameraleuten die deutschen Rad-Profis bei der Tour de France 2003 begleiten. Das Ergebnis ist ein Film, der sich bemüht, eine authentische Chronik der laufenden Ereignisse quer durch Frankreich zu sein. Wobei nicht immer eindeutig erkennbar ist, welche Position – im realen wie im übertragenen Sinn – der Regisseur bei der Angelegenheit hat. Neben spektakulären, nie gesehenen Aufnahmen stehen Allerweltsmomente, die der Tagesschau entsprungen sein könnten.

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Pepe Danquart kombinierte – soweit es möglich war – den Äusseren Ablauf der Veranstaltung mit dem sportlichen Alltag der beiden deutschen Radsport-Stars Erik Zabel und Rolf Aldag. Die mediale Aussenwelt korrespondiert in den besten Momenten von höllentour mit der individuellen Innenwelt: Wenn Aldag aus dem Off die Minute vor dem Start beschreibt und man ihn dabei sieht, wie er nervös am Trikot zupft und noch einmal den akkuraten Sitz seines Helmes überprüft, tritt der bunt gewandete Radler aus der Anonymität und lüftet etwas von seiner Unnahbarkeit. Dadurch deutet der Film eine menschliche Dimension an.

Heftig zur Sache geht es bei Höllentour, wenn sich die Kamera plötzlich innerhalb einer Massenkarambolage befindet und Danquart anschliessend die körperlichen Folgen der Kollision zeigt: Aber ein Indianer kennt keinen Schmerz, und was ein hartgesottener Radler ist, schon gleich gar nicht. Trotz Prellungen und bösen Schürfungen geht’s wieder aufs Rad und weiter. Dabei bleibt der Regisseur so ernst bei der Sache wie die Radler selbst, denen ihre physische und psychische Erschöpfung von Tag zu Tag mehr ins Gesicht und auf den Körper geschrieben steht. höllentour zeigt konsequent, wie sich der Mensch gnadenlos malträtieren kann. Mit seiner Digitalkamera rückt ihm Pepe Danquart rigoros auf den Leib. Das macht die Stärke dieses Films aus. Dem Wesen des Leistungssports im Grundsätzlichen nähert er sich freilich nur indirekt. An diesem Punkt zeigen sich nebenbei die Grenzen eines dokumentarischen Projekts wie Höllentour. Ein kritisches, womöglich investigatives Hinterfragen des Gezeigten ist anscheinend nur bedingt möglich, eine zwangsläufige Folge der Nähe des Machers zu den Protagonisten und ihren Sponsoren. Ohne die wohlwollende Unterstützung der Telecom wäre der Film wohl kaum möglich gewesen. Da sich Unternehmen dieser Art in Sachen PR auskennen, wissen sie um die Einwirkungen von Filmen auf die Imagebildung. So schlich sich hin und wieder ein Stück Heldengedenkfeier in die Höllentour. Nur wenn man genau hinsieht, spürt der Zuschauer dann noch etwas vom angeschlagenen Ego der Athleten. Till Brönners Musik ist ebenfalls nicht dazu angetan, kritische Distanz zur Absurdität der Veranstaltung «Tour de France» zu schaffen und zu ihren «Helden», die ihren Masochismus auf besonders aufwendige Weise ausleben.

Trotz mancher Schönheitsfehler, die Höllentour unversehens in die Nachbarschaft der allgemeinen Ödnis von Sportsendungen im Fernsehen rückt, ist es den Filmemachern hier aber im Grundsatz gelungen, Sport als Lebensinhalt und seinen psychologischen Hintergrund in eindrückliche Bilder zu fassen. Die zeigen beeindruckend den gnadenlosen Stress bei der Tour de France, wobei es kein Pardon gibt. Danquart lässt nebenbei Funktionäre und Trainer unbefangen plaudern. Das gibt der Angelegenheit eine weitere Dimension – die auf den zweiten Blick so manchen Abgrund unfreiwillig offenbart. Über das Sportliche hinaus, handelt Höllentour so von Geschäft, Egomanie, Lustgewinn und dem Preis, den man bereit ist, dafür zu bezahlen. Einen vergleichbaren Film hat es lange nicht gegeben.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2004 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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