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Gramper und Bosse

Das Rattern des Zuges ist das tönende Leitmotiv von Edwin Beelers «Bahngeschichten», wie der Luzerner Regisseur seinen Film im Untertitel nennt. Ta-ta, ta-ta, ta-ta, geht der Sound schon im Intro.

Text: Birgit Schmid / 01. Apr. 2005

Das Rattern des Zuges ist das tönende Leitmotiv von Edwin Beelers «Bahngeschichten», wie der Luzerner Regisseur seinen Film im Untertitel nennt. Ta-ta, ta-ta, ta-ta, geht der Sound schon im Intro. Ein Afrikaner in weissem Hemd und rotem Gilet, in der modernen SBB-Berufsbezeichnung der Railbar Stewart, sitzt mit dem Kopf in die Hand gestützt neben dem Servicewägelchen, das im Rhythmus des fahrenden Zuges schaukelt. Dann geht der Blick hinaus auf die vorbeifliegende Landschaft. Als nächstes stattet die Kamera dem Lokführer im Führerstand einen Besuch ab, nimmt seine Perspektive ein: Ein Schnellzug braust heran, trutzige Berge stehen am Horizont. Schwenk auf die Oberleitung, und die Stimme des Filmemachers ertönt aus dem Off: «Ich fahre gerne Eisenbahn. Ich fühle mich darin sicher. Die Landschaft zieht an mir vorbei, alles ist nah und fern zugleich, fast wie die Erinnerung an die Kindheit. Die Eisenbahn, das war die Welt meiner Eltern. Meine Mutter war Rottenköchin. Sie hat für eine Gruppe von Bahnarbeitern gekocht. Dazu gehörte mein Vater. Er war Gramper. So nannte man die Gleisarbeiter.» Schnitt. Anna und Albert Beeler sitzen im Speisewagen.

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Edwin Beeler setzt seinen Eltern und ein bisschen auch dem nationalen Heiligtum SBB mit Gramper und Bosse ein filmisches Denkmal. Ein halbes Leben lang standen Vater und Mutter im Dienste der Schweizerischen Bundesbahnen. Wenn der Filmemacher mit ihnen nun an die Orte der Erinnerung reist und sie aus vergangenen Tagen erzählen lässt, hat er immer auch die sich verändernde Eisenbähnlermentalität im Auge – in der persönlichen Geschichte spiegelt sich der Wandel der urschweizerischen Institution. Nachdem Albert Beeler etwa an der Stelle an der Gotthardstrecke steht, wo ein Arbeitskollege tödlich verunfallte – «Da kam ein Güterzug, ein kurzer Pfiff, und ich dachte, Gopferdoricheib, da ist doch etwas passiert!» –, konfrontiert ihn der Regisseur mit der Gegenwart und führt ihn in ein computergesteuertes Stellwerk, wo der pensionierte Bähnler demKollegen staunend über die Schultern schaut und sich kopfschüttelnd dessen Frustration anhört: Früher stellte man die Billette ab Blöckli aus, heute laufe alles über den Computer, und da gäbe es viele Störungen, die einen nur von der Arbeit abhielten. Es sind Überforderung und Verunsicherung einer älteren Generation, die Gramper und Bosse thematisiert. Umstrukturierungen haben auch vor dem Staatsbetrieb nicht Halt gemacht, automatisierte Arbeitsabläufe und Sparmassnahmen führten zu einem Personalabbau, der wiederum mehr Arbeit, mehr Verantwortung und einen grösseren Zeitdruck bedeutet, wie ein Gleismonteur beklagt.

Was das für fatale Folgen haben kann, schildert ein Lokführer: Ein Kollege habe vor lauter Zeit- und Darmdruck sein Geschäft in eine Kehrichtschaufel gemacht, diese in voller Fahrt entleert – wodurch der Inhalt zuerst an einen Masten prallte und beim nächsten Fenster wieder rein und einem Zugpassagier an den Kopf flog. Es gibt wiederholt Momente zum Schmunzeln, jedoch vom Filmemacher nicht bewusst provoziert. Edwin Beeler will nicht den Bünzli-Beamten vorführen. Er vermeidet aber auch ein Schwelgen in Nostalgie.

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Man staunt trotzdem über die starke Identifikation mancher Angestellter mit ihrem Betrieb. Für sie sei der Beruf noch eine Berufung gewesen, während es für die Jungen heute ein Job wie jeder andere sei, sagt einer und fügt hinzu: «Der Eisenbähnler mit Leib und Seele ist vom Aussterben bedroht.» Und doch gibt es ihn noch: Sein Hobby sind Modelleisenbahnen, man kann ihm bei der liebevollen Präzisionsarbeit zusehen, und er gesteht: «Eisenbahn ist eine Art Krankheit.» Nicht nur ihm dürfte es weh ums Herz werden, wenn Albert Beeler im Bahnhofbuffet Arth Goldau seinen letzten Kafi Luz trinkt. In der nächsten Einstellung steht hier der Einkaufshop «Aperto».

Beeler, der Bähnlersohn, ist ein faszinierter, stiller Beobachter. Die Kamera von Hansueli Schenkel verfolgt aufmerksam die Schweissarbeiten an der Schiene, das Hantieren mit Schaltern und Knöpfen im Stellwerk. SBB-Symbolik wird ins Bild gerückt: die Anzeigetafel der Züge, die Bahnhofsuhr. Die Tonspur hält das Pfeifsignal bei der Zugabfahrt fest oder den Schotter, der aufs Trassee prasselt. Neben den etwas lang geratenen Gleisbausequenzen stehen Archivaufnahmen aus der Filmwochenschau und Fotografien aus dem Familienalbum. Immer wahrt der Regisseur eine respektvolle Distanz zum Privaten und setzt Kommentare sparsam ein. So nimmt man eine Erinnerung an den Vater, der in seiner Freizeit am liebsten auf dem Sofa lag und Wildwestromane las, dankbar auf.

Da der Film nicht nur Gramper, sondern auch Bosse heisst, kommen gegen Ende auch diese zu Wort. Als Generaldirektor Benedikt Weibel zum hundertsten Geburtstag der SBB am Bahnhof das «Via»-Magazin verteilt, spricht ihn ein Fahrgast mit Krawatte und Aktenkoffer an: Er solle doch bitte etwas gegen die Überbelegung der Ersten Klasse auf der Strecke, die er täglich zur Arbeit fahre, tun. Das dürfte aus Sicht der Gramper ein Luxus-Problem sein.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 3/2005 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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