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Snow white 01 gross

Snow White

Snow White folgt dem Regelwerk des Melodrams vom gefallenen Mädchen, wie es die Oswalds und Pabsts seit den zwanziger Jahren auf den Weg brachten. Samirs Film ist also eine Art Freudlose Gasse im Schweizer Schickeria-Outfit der Jetztzeit.

Text: Herbert Spaich / 01. Sep. 2005

Nico ist die einundzwanzigjährige Tochter aus reicher Zürcher Bankiers-Familie. Während der kaltherzige Vater seinen Bankgeschäften nachgeht und Mama der Psychose entgegendämmert, ist für Nico vor allem Partytime im schicken elterlichen Anwesen am See oder in den angesagtesten Clubs der Stadt. Da wird Koks schnabuliert wie andernorts in der Schweiz das Birchermüesli. Doch halt: Nico ist nicht ganz und gar verdorben. Sie bessert sich als Modell bei Modeschauen ihr Taschengeld auf und engagiert sich darstellerisch in einem kleinen Experimentiertheater. Dagegen hat auch ihr derzeitiger Lover Boris nichts einzuwenden. Ihm gehört die Szene-Disco «Casanova». Als Ex-68er hat er sich ein Herz für junge Leute bewahrt, sofern sie Geld haben. Ausserdem verfügt Boris über gute Kontakte zur Drogen-Mafia. Da tritt der Märchenprinz in Gestalt des Musikers Paco in Schneewittchen Nicos Leben und bringt alles durcheinander. Der gesellschaftskritisch engagierte Rapper will Nico aus dem dekadenten Sumpf retten. Sie hat ihm aus Liebe verschwiegen, dass sie reicher Leute Kind ist. Nach den Regeln des Kintops führt das zwangsläufig zum schrecklichen Ende: In der Gosse gelandet, greift Nico schliesslich zu Papas 9mm-Beretta, um Hand an sich zu legen.

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Samir – der erfolgreiche Dschoint-Ventschr-Produzent – hat mit seinem neuen Kino-Spielfilm weniger bei seinem letzten Dokumentarfilm Forget Baghdad angeknüpft und mehr bei seinen TV-Filmen – etwa tödliche schwesternliebe –, die er für Privatsender wie PRO 7 und RTL in Szene setzte. Als Ko-Autor stand ihm bei Snow White Michael Sauter zur Seite, einer der «Väter» von Strähl, Achtung, fertig, Charlie und jüngst Mein Name ist Eugen. Sauter versteht sich darauf, Geschichten aus dem Fundus der Filmgeschichte zu heben und zeitgemäss aufzupolieren.

So folgt Snow White dem Regelwerk des Melodrams vom gefallenen Mädchen, wie es die Oswalds und Pabsts seit den zwanziger Jahren auf den Weg brachten. Samirs Film ist also eine Art Freudlose Gasse im Schweizer Schickeria-Outfit der Jetztzeit. Dabei kann man ihm eine gewisse Raffinesse nicht absprechen. Einerseits schreckt der experimentierfreudige Regisseur vor keiner Untiefe der Kolportage zurück, andererseits fängt er sie formal mit einer Eiseskälte auf, die konsequent seinen ganzen Film durchzieht. Da vergeht einem dann das Lästern – selbst angesichts des finsteren Drogen-Dealers mit seinem dekorativen Dreitagebart, wie wir ihn aus den einschlägigen Fernsehkrimis kennen. Samir nimmt dem unfreiwillig Komischen immer im letzten Moment die Spitze. Da wird die Einsamkeit der Menschen deutlich, die ziellos durch ihr Leben irrlichtern, um am Ende abzustürzen. Keiner kann dem anderen helfen, weil er selbst Hilfe bitter nötig hat. Samir meint das ganz ernst und versteht seinen Film als Kommentar zur Gegenwart und den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Dabei strapaziert er den guten Willen seines Publikums allerdings beträchtlich, indem er seine Handlung bisweilen arg ins Kraut schiessen liess. Dass in diesen Momenten – zum Beispiel am Schluss – sein Film nicht ganz und gar aus den Fugen gerät, ist auch ein Verdienst der Schauspieler. Souverän haben sie sich auf das gewagte Spiel mit der Kolportage eingelassen. Julie Fournier und ganz besonders Zoé Miku tragen dazu bei, dass aus Snow White einer der interessantesten Schweizer Filme der letzten Zeit geworden ist.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2005 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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