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Nachbeben 08

Nachbeben

Sie habe untersuchen wollen, was geschehe, wenn Männer der Finanzwelt ihre dort antrainierten Handlungsweisen in ihre Familien hineintragen, so hat sich Stina Werenfels zu ihrem Drama geäussert. Von der Wechselwirkung von Geschäfts- und Privatleben handelt Nachbeben also letzlich, oder (so Werenfels in einem WoZ-Interview) von den «kollateralen Schäden» des gewohnheitsmässigen und im Finanzsektor überlebensnotwendigen Dauer-Dealens.

Text: Kathrin Halter / 01. Mär. 2006

Sie habe untersuchen wollen, was geschehe, wenn Männer der Finanzwelt ihre dort antrainierten Handlungsweisen in ihre Familien hineintragen, so hat sich Stina Werenfels zu ihrem Drama geäussert. Von der Wechselwirkung von Geschäfts- und Privatleben handelt Nachbeben also letzlich, oder (so Werenfels in einem WoZ-Interview) von den «kollateralen Schäden» des gewohnheitsmässigen und im Finanzsektor überlebensnotwendigen Dauer-Dealens. Nun, falls man Rückschlüsse zieht von den in Nachbeben praktizierten Umgangsformen auf diejenigen unter Bankern, dann Guten Morgen. Die falschen Töne und jovial vorgebrachten Hinterhältigkeiten vergiften in Nachbeben die Atmosphäre eines Gartenfests von Beginn weg so dauerhaft, dass einen frösteln könnte. Gleichzeitig mag man kaum wegblicken vor Beklemmung und fasziniertem Erstaunen. Schon das alleine ist eine beachtliche Leistung in einem psychologischen Kammerspiel, das so dicht und spannungsintensiv funktioniert wie ein gut gebauter Thriller.

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1998 schon begann die Zürcher Filmemacherin Stina Werenfels (Pastry, Pain and Politics, Meier Marilyn) mit den Recherchen zu einem Film aus der Finanzwelt. Geplant war zunächst ein Epos über den Aufstieg und Niedergang eines Secondos als Investmentbanker. Das Projekt liess sich jedoch nicht finanzieren, und so komprimierte Werenfels in Zusammenarbeit mit der Autorin Petra Lüschow das Epos zum Kammerspiel und zehn Jahre Handlungszeit auf einen Grillabend. Ort des Geschehens: eine Sechs-Millionen-Villa an der Zürcher Goldküste; das Personal: zwei Investmentbanker und ihre Ehefrauen, ein Berufskollege und eine Au-pair. Das Drama um Einflussnahme und Kontrollverlust beginnt damit, dass HP seinem verfetteten Sohn Max mit dem Gartenschlauch (vergeblich) beizubringen versucht, wie man «den andern zum Arschloch macht», um nicht selbst als solches zu enden. Es geht nach Eröffnung des Grillabends weiter mit den Versuchen des Gastgebers HP, den von seinem Chef und Berufskollegen Philip mitgebrachten Überraschungsgast Gutzler, ein Aufsteiger mit Killerinstinkt, mit penetranten Muntermacher-Parolen klein zu kriegen (was ebenfalls misslingt) und gleichzeitig seine eigene Haut zu retten. Denn die ganze prächtige Designer-Herrlichkeit mit Seeanstoss steht zum Verkauf ausgeschrieben, was nicht einmal HPs Ehefrau Karin weiss. Rettung durch einen lange erhofften Finanzdeal soll noch an diesem Abend gelingen, und dies ausgerechnet durch Philip, der den Abend über jedoch meist damit beschäftigt ist, seine Affäre mit der ausflippenden Aupair der Gastgeber vor seiner gutbetuchten Ehefrau Sue zu vertuschen. So sind alle miteinander verbandelt, in wechselseitiger Abhängigkeit oder Schuld.

Korrupt und erpressbar geworden sind sie somit alle in Werenfels Figuren-Ensemble, auch die von ihren Männern abhängigen Frauen – auch wenn die Trauer darüber nicht alle gleich erfasst. Die Trauer und Beschämung ist es auch, und das Wissen um die Jämmerlichkeit des eigenen Verhaltens, was die Figuren zuletzt wieder zu menschlichen Wesen macht, wenn alles auseinanderbricht und verloren scheint. Auch darin liegt ein Verdienst von Stina Werenfels: dass sie reine Distanziertheit, als moralische Haltung, die die Figuren abwertet und zu Karikaturen reduziert, verhindert. Zwar möchte man mit HP keinen Abend verbringen und mit Philip nicht mal ein Bier trinken (und schon gar nicht verheiratet sein); und wohl kaum eine Frau wünschte sich die Upperclass-Zicke Sue zur Freundin oder die traurige, dauerbetrunkene Karin in ihrem Puppenheim. Und doch gibt es bei allen Protagonisten (Philip vielleicht ausgenommen) irgendwann den Punkt, wo unser Ekel in Staunen kippt und der Abscheu in Mitgefühl. Nur Max wandelt wie ein Alien durch Elternhaus und Film und beobachtet, auch als ein Vertreter der Zuschauer, den Verfall seiner Familie aus der High-Tech-Klause seines Zimmers heraus.

Nachbeben 01

Diagnose: Verdrängung. Ideale Voraussetzung für ein analytisches Stück, in dem sich erst nach und nach herausstellt, was die Figuren voreinander und vor sich selber verbergen. Dramaturgisch gesehen funktioniert Nachbeben nach einem ähnlichen Muster wie festen, Thomas Vinterbergs Dogma-Drama, denn hier wie dort bricht im Verlaufe eines Abends eine Welt zusammen, werden Fassaden und Lebenslügen effektvoll zu Kleinholz gehauen. Ästhetisch jedoch lässt sich Nachbeben kaum mit Dogmafilmen vergleichen: Nicht nur wurde bei der Ausstattung und der farblichen Gestaltung kein Detail dem Zufall überlassen. Die Kameraarbeit von Piotr Jaxa mit ihrem differenzierten Spiel zwischen Nähe und Distanz (technisch gesprochen: zwischen Close ups und Totalen) wirkt bei aller Beweglichkeit und vorsätzlichen Spontaneität kontrolliert und dabei hochästhetisch. Mit Susanne-Marie Wrage, Bettina Stucky und Michael Neuenschwander überzeugt zudem ein tolles Ensemble ausgewiesener Theaterschauspieler, die den Dialogen den Eindruck von grosser Spontaneität und Lebendigkeit geben; nur Georg Scharegg als Philip wirkt vergleichsweise blass. Das ist auch ein Resultat der Produktionsweise, die den Schauspielern noch bei den Dreharbeiten viel Freiheit und Mitgestaltungsmöglichkeit zugestand. In seiner exzellenten Schauspielführung, der dramaturgischen Dichte und inhaltlichen Kompromisslosigkeit, ja Härte ist Nachbeben deshalb einer der stärksten Schweizer Filme seit langem.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2006 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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