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Dutti der Riese

Martin Witz, der schon bei zahlreichen renommierten Produktionen als Drehbuchautor, Cutter und Tonmann mitwirkte, präsentiert mit Dutti der Riese nicht nur seine allererste Regiearbeit fürs Kino – er realisierte auch das erste umfassende Filmporträt über den Migros-«Erfinder».

Text: Doris Senn / 01. Sep. 2007

Mit seinem rundlichen Gesicht, dem trotzigen Blick in die Ferne und dem Stumpen im Mund könnte er leicht als Verkörperung des «Kapitalisten» par excellence durchgehen – wie Eisenstein ihn in seinen Filmen inszenierte. Doch weit gefehlt. Gottlieb Duttweiler ist zwar wohl eine widersprüchliche Figur – Demokrat und Diktator, Menschenfreund und kalkulierender Unternehmer, Kriegsgewinnler und Sozialpolitiker. Und doch hat «Dutti», wie er genannt wurde, ein Imperium geschaffen, das bis heute floriert und das er auf dem Höhepunkt seiner Macht in eine Genossenschaft verwandelte und dem Volk «zurückgab»: die Migros. In der Schweiz ist er ein Nationalsymbol – wie Wilhelm Tell, nur etwas weniger mythisch. Seine Verkaufsläden bedeuten für alle hier Aufgewachsenen ein Stück «Heimat» – und seit den jüngsten Aktivitäten (mit dem Budget-Label und Partyaktivitäten) ist die Migros sogar zu Kult geworden.

Martin Witz, der schon bei zahlreichen renommierten Produktionen als Drehbuchautor, Cutter und Tonmann mitwirkte (etwa bei War Photographer von Christian Frei oder Elisabeth Kübler-Ross von Stefan Haupt), präsentiert mit Dutti der Riese nicht nur seine allererste Regiearbeit fürs -Kino – er realisierte auch das erste umfassende Filmporträt über den Migros-«Erfinder». Mit viel ausgesuchten Archivbildern, unveröffentlichtem Tonmaterial (in dem Duttweiler aus dem Off seinen Werdegang erzählt) und Statements von Zeitzeugen, Wegbegleitern und Repräsentanten der um das Imperium entstandenen Institutionen (etwa Monika Weber von der LdU oder David Bosshart vom Gottlieb-Duttweiler-Institut) zeichnet der Filmemacher chronologisch den Lebenslauf dieses für die Schweiz so untypischen Unternehmers: eine Tellerwäscherkarriere mit ungeahnten sozial- und kulturpolitischen Implikationen.

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Gottlieb Duttweiler wurde 1888 in Zürich geboren. Nach einer kaufmännischen Lehre stieg er ins Lebensmittel-Engros-Geschäft ein, machte eine steile Karriere, um im Gefolge des Ersten Weltkriegs bös auf die Nase zu fallen. Duttweiler verlor sein Vermögen, ging mit seiner Frau Adele zwei Jahre nach Brasilien und versuchte sich als Plantagenbesitzer – ohne Erfolg. 1924 kehrte er in die Schweiz zurück, um ein eigenes Geschäft aufzuziehen – mit einer visionären Idee. Inspiriert durch die Selbstbedienungsgeschäfte in den USA, schlug er eine Bresche in den Preiskampf des Kleinhandels und brachte mit Lastwagen seine Produkte zu Billigpreisen bis in die Bergdörfer. Der Widerstand der Kleinhändler war ihm sicher, doch der Erfolg gab ihm Recht: Nicht nur wuchs die Anzahl seiner rollenden Verkaufsläden innert Jahresfrist aufs Doppelte und Dreifache – bald löste er diese durch feste Geschäfte an renommiertesten Lagen ab. Als dann auch die Markenproduzenten begannen, ihn zu boykottieren, stieg die Migros in die Produktion ein, was ihr Wachstum noch zusätzlich beschleunigte.

Dutti der Riese gelingt es, zum einen Duttweiler zu porträtieren und zum andern ein exemplarisches Stück Wirtschaftsgeschichte zu zeigen. Die Entwicklung des Detailhandelsriesen ist dabei nicht nur aussergewöhnlich an und für sich – sie ist auch ein Spiegel des wachsenden Wohlstands der Schweizer Gesellschaft: Den Lebensmittelgeschäften folgte etwa die Gründung von Hotelplan (1935!), die «Reisen für Jedermann» anbot, für die «zunehmende Freizeit» wurden 1944 erfolgreich Weiterbildungskurse ins Leben gerufen, und in den Fünfzigern trat Dutti in den Benzinhandel (Migrol) ein, um mit der wachsenden Motorisierung Schritt zu halten. Nicht zu vergessen die politische Bedeutung: etwa mit der «Bewegung unabhängiger Männer» (später Landesring der Unabhängigen, LdU), die 1934 auf Anhieb mit sieben Sitzen in den Nationalrat gewählt wurde, der Gründung einer eigenen Zeitung («Die Tat») oder mit dem Beschluss des kinderlosen Ehepaars Duttweiler, seine Rüschliker Villa mit Park in ein öffentliches Grundstück umzuwandeln. Ihr Millionenvermögen vermachten die Duttweilers – in fast schon kommunistisch anmutendem Geist – dem «sozialen Kapital», wie Dutti es nannte: Jedermann konnte für wenige Franken Anteilseigner werden.

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In der zweiten Hälfte der Fünfziger stürzte Duttweiler in eine Lebenskrise, er engagierte sich etwas verbissen für die im Zweiten Weltkrieg verarmten Auslandschweizer und trat dafür sogar in einen ominösen Hungerstreik. Dessen nähere Umstände bleiben im Dunkel – und so bleiben ein paar Mysterien im sonst so umsichtig rekonstruierten Lebenslauf, die aber nur dazu beitragen, das querdenkerische Image Duttweilers noch zusätzlich zu untermauern. In seinen letzten Lebensjahren sollte er dann die Weichen für sein sprituelles Vermächtnis legen – mit der Einrichtung des Migros-Kulturprozents – zur Unterstützung von Bildung und Kultur – und der Grundsteinlegung für das Gottlieb-Duttweiler-Institut im Dienst der unabhängigen Forschung kurz vor seinem Tod 1962.

Martin Witz bringt eine ungeheure Dichte an Fakten, die er hervorragend bebildert und welche die ausserordentliche Tragweite eines Phänomens illustrieren, das in der hiesigen Wirtschaft und Gesellschaft solitär dasteht. Unbekannte Fakten und amüsante Anekdoten aus der Migros-Geschichte und Duttweiler-Biografie finden da ebenso ihren Platz wie die Einbettung in den zeitgenössischen Kontext. Dem Film Dutti der Riese kommt nicht nur das Verdienst zu, die Verästelungen des «Unternehmens» Migros anschaulich im Überblick zu zeigen – der Film ist auch eine Hommage an die revolutionäre Persönlichkeit Duttis, der mit seinen zukunftsweisenden Ideen wahrhaft ein «Riese» ist, den man der kleinen Schweiz gar nicht zugetraut hätte.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2007 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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